Ruf der Dunkelheit
antwortete sie: „Heute Nacht.“ Ich folgte der langgezogenen Kurve des schmalen Waldwegs, während sich die Bäume vor uns lichteten. Valentina wartete bereits auf der Veranda, denn sie hatte den brummenden Motor des Wagens mit Sicherheit schon einige Minuten vor unserer Ankunft durch das Unterholz dröhnen gehört. Hinter ihr erschien Julian und beide kamen auf uns zu, als ich das Auto abstellte und ausstieg.
„Hast du alles, was du brauchst?“ Valentina würdigte mich keines Blickes, als sie sich mit fast angstvoller Miene an Olivia wandte. Diese nickte auf die braune Papiertüte, die sie in den Händen hielt. „Hier ist alles drin.“ Val begleitete Olivia zur Haustür und löcherte sie mit allen möglichen Fragen, während Julian auf mich zutrat und mir zur Begrüßung einen Kuss gab. Ich sah Valentina einen kurzen Moment über seine Schulter hinweg nach und blickte dann zu Julian auf. „Wie war es mit ihr? Hat sie dir wieder Vorwürfe gemacht?“ Mein Gefährte schüttelte den Kopf und ich hob erstaunt die Brauen. „Nein“, erwiderte er. „Sie hat mich über Max´ Vergangenheit ausgefragt.“
„Und?“, hakte ich sofort nach. „Was hast du ihr erzählt?“
Julian biss sich kurz auf die Lippe. „Einiges“, er holte tief Luft und wand sich unter meinem Blick, „und manches davon war vielleicht mehr, als sie ertragen kann … aber … na ja … sie wollte es so.“ Meine Kehle wurde trocken, als ich erfuhr, was während meiner Abwesenheit passiert war. „Aber … meinst du nicht, Max hat ihr vielleicht aus gutem Grund nicht alles erzählt?“ Ich senkte meine Stimme, damit Valentina nicht alles mithören konnte. Julians Gesicht verfinsterte sich. „Und was soll das bitte noch bringen? Sie steckt schon mittendrin! Es spielt keine Rolle mehr, was Max darüber denkt – sie ist seine Gefährtin, die von Sorge zerfressen wird und nicht versteht, was da gerade passiert. Meinst du nicht, es wäre genau jetzt an der Zeit, sie über seine Vergangenheit aufzuklären?!“
Ich nickte leicht und sah betroffen zu Boden. Auch wenn es mir schwer fiel, es zuzugeben. Julian hatte Recht. Es gab keinen Grund mehr, sie im Unklaren zu lassen. Doch ich dachte mit Schwermut an die erste Zeit, die wir nach unserer Verwandlung verbracht hatten. An die tiefe Freundschaft, die mich mit ihr verband – die ich immer noch empfand, auch wenn sie sich von mir abgewandt hatte. Seufzend sah ich zu Julian auf. Ich war über Max´ bewegte Vergangenheit schon lange im Bilde und mir war klar, wie verstörend das für Valentina sein musste. Sie tat mir einfach nur leid – neben die Sorge um ihren Gefährten hatte sich nun mit Sicherheit ein bitterer Beigeschmack gemischt. Zumal wir noch immer nicht wussten, wer hinter all dem steckte.
„Komm.“ Julian legte sanft seinen Arm um meine Schulter und gemeinsam folgten wir den beiden ins Haus. Als wir eintraten, begegnete mir Valentinas Blick. Ein Schauer fuhr mir durch den gesamten Körper, als ich den Schmerz in ihren Augen erkannte. Sie musterte mich mit Argwohn. Der Gedanke, dass ich Max nun bald sehen würde, gefiel ihr nicht.
Kapitel 9: Tamara - Das Ritual
Eine bedrückende Stille schien sich über den gesamten Wald auszubreiten, als Olivia die ersten Kerzen entzündete. Diese Stille war nur schwer zu ertragen. Es hatte den Anschein, als hätte sich jedes Wesen, jeder Bewohner des dichten Grüns vorsichtshalber zurückgezogen. Als ob sie spürten, dass etwas vor sich ging – etwas Befremdliches. Das Flackern der kleinen Flammen tauchte die schwarzen Baumstämme in ein unruhiges Leuchten. Zitternd warfen die Kerzen ihren Schein in die direkte Umgebung und zeichneten verzerrte Schatten mit ihrem Licht.
Ich saß mit Olivia in einem Schutzkreis, den sie mit Salz um uns herum gezogen hatte. Sie nahm gegenüber von mir Platz, nachdem sie die Elemente angerufen und in jede Himmelsrichtung eine kleine Schale mit einer Opfergabe aufgestellt hatte. Nun war sie völlig in sich gekehrt; ihre Augen waren geschlossen, während sie immer wieder dieselben Worte murmelte.
Ich spürte die Blicke von Julian und Val, die auf mir ruhten und meine Kehle wurde trocken. Leise Zweifel krochen aus den hintersten Winkeln meines Verstandes, doch ich drängte sie sofort energisch zurück. Olivia hatte mir nämlich mehrmals eingeschärft, dass ohne den festen Glauben daran, kein Zauber wirken konnte. Also amtete ich tief durch, versuchte meinen Kopf zu leeren und richtete meinen Blick wieder auf
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