Ruf der Dunkelheit
Gesicht neben mir. Ihre Lider zuckten ab und zu leicht, doch sie atmete tief und gleichmäßig. Mein Blick glitt an ihr hinunter, bis auf den Boden. Ihre kleine schwarze Umhängetasche aus Kunstleder stand zwischen ihren Füßen. Mir kam ein Gedanke, den ich aber sofort wieder verwarf. Mit einem geräuschvollen Atemzug schlug ich die Zeitschrift auf, die ich mir beim Einsteigen mitgenommen hatte.
Doch der Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder auf die Handtasche zu Olivias Füßen schielte. Schließlich ließ ich die Illustrierte sinken und lehnte mich nach vorne; fast automatisch streckte ich meine Hand nach unten aus, achtete darauf, Olivia nicht zu berühren und ließ schließlich meine Finger zwischen den geöffneten Reißverschluss gleiten. Die ganze Zeit über hielt ich den Atem an, aus Angst Olivia könnte durch das kleinste Geräusch aufschrecken.
Blind tastete ich verschiedene Gegenstände ab, bis ich auf etwas kühles Festes stieß. Hastig griff ich zu und zog ihr Handy langsam aus dem gähnenden schwarzen Loch der Tasche. Ich wusste selbst nicht genau, warum ich das tat – aber ihr Geständnis vorhin ließ in mir den Verdacht aufkeimen, dass es vielleicht noch mehr gab, das sie mir verheimlichte. Zu meinem Glück war das Handy nicht ausgeschaltet, sondern nur im Flugmodus. So musste ich wenigstens keine Pin-Sperre überwinden.
Das grünliche Licht des Displays leuchtete mir entgegen, als ich den Ordner mit den Nachrichten öffnete. Sofort stach mir Michaels Name in die Augen, mit dem Olivia in den letzten Tagen wohl einen regen Informationsaustausch betrieben hatte. Ich las mir die letzten SMS der beiden durch und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand die Faust in den Brustkorb rammen. Ich unterdrückte das unwillige Knurren, das sich meine Kehle hinaufarbeitete und starrte wie hypnotisiert auf die Zeilen, die Olivia an ihren Bruder geschickt hatte:
Und denk dran, was wir besprochen haben – Daria zu vernichten, hat oberste Priorität! Und am besten du sorgst dafür, dass alle Vampire auch gleich mit drauf gehen – verstanden?!
Ich scrollte hoch, bis zu Michaels Antwort:
Verstanden Schwesterherz!
Das Blut pochte in meinen Schläfen, als mir klar wurde, dass Olivia einzig und allein ihre eigenen Pläne verfolgte. Margaretha musste mit jemanden Namens Daria in Verbindung stehen, die sie tot sehen wollte. Aber dass sie sich nun auch gegen uns gewandt hatte, lähmte mich. Nach all dem, was wir erlebt und überlebt hatten, wähnte ich sie auf unserer Seite. Neben mir ertönte ein leiser Schnarcher. Erschrocken blickte ich auf und sah, wie Olivia kurz die Brauen zusammenzog und den Kopf an die gegenüberliegende Seite der Kopfstütze lehnte. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr, doch ihre Augen blieben weiterhin geschlossen. Erleichtert atmete ich auf, schaltete das Display aus und ließ ihr Handy zurück in die Tasche gleiten.
Während des restlichen Fluges hatte ich alle Mühe, meine Wut in Zaum zu halten. Als Olivia erwachte und das Frühstück serviert wurde, gab ich mich zwar wortkarg, doch ich war sehr bedacht darauf, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Ich hatte in der letzten Stunde einen Plan gefasst – nach der Landung würde ich Olivia abhängen. Aus einer von Michaels Nachrichten wusste ich, wo ich Tamara und ihn finden konnte. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich sie einfach töten oder nur aus dem Verkehr ziehen sollte. Der Gedanke, ihr einfach das Genick zu brechen, hob meine düstere Stimmung zwar etwas, aber gleichzeitig widerstrebte es mir auch. Wahrscheinlich würde die Genugtuung nicht allzu lange anhalten.
„Kann ich das haben?“ Als Olivias Stimme neben mir erklang, zuckte ich kurz zusammen. Ich wandte den Kopf zu ihr um und sah, wie sie auf das Brötchen auf meinem unberührten Essenstablett zeigte. „Oder willst du das vielleicht doch noch essen?“ Sie legte den Kopf schief und schenkte mir ein neckendes Lächeln. Hätte ich nichts von ihren Plänen gewusst, wäre mir wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen, dass sie etwas Derartiges vor hatte. Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie griff nach dem Brötchen und nahm sich auch gleich noch das Päckchen Butter, das schon ein wenig matschig daherkam. Immerhin stand das Essen auch schon eine Weile vor mir.
„Ist alles in Ordnung Julian?“ Plötzlich ergriff sie meine Hand und ihr sanfter, besorgter Blick ruhte auf
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