Ruf der Geister (German Edition)
den Armen und warf es im hohen Bogen in den Kanal.
„Hol ihn dir!“
Zutiefst erschrocken sah er seinen Teddy im Wasser landen. Wie konnte sie so etwas tun?!
Er dachte nicht nach. Stolpernd kam er ans Ufer und blickte fassungslos auf seinen Beschützer, der sich lan gsam mit Wasser vollsog.
Nein, nein, nein!
Das Wasser umspülte kühl seine Beine, seine Hüften, seine Brust. Dann verlor er den Halt, seine Füße rutschten am steinigen Boden ab. Das Stofftier versank. Wie ein Hund kraulend versuchte er, zu seinem Teddy zu gelangen, aber er schaffte es nicht, sich über Wasser zu halten.
Dunkelheit umfing ihn. Er konnte nicht atmen. Alle G eräusche wandelten sich zu einem dumpfen Rauschen.
Plötzlich zog ihn jemand nach oben. Er sah in ein fremdes Gesicht, das nicht zu den Freunden seiner Schwester gehörte.
„Mein Teddy“, schluchzte er.
„Tut mir leid“, schnaufte der andere Junge, der vie lleicht drei Jahre älter war als er. „Der ist weg.“
Der andere zog ihn am Kragen zurück zu den Steinen. „Solche Arschlöcher!“, hörte er ihn wütend murmeln.
Der Junge starrte auf das Wasser des Kanals, das erneut von einem Containerschiff durchpflügt wurde. Tränen liefen unaufhörlich seine Wangen hinunter. Ihm war noch niemals so kalt gewesen.
GESICHT UNTER EIS
Als Joshua am Sonntagmorgen aus dem Fenster scha ute, eröffnete sich ihm eine Traumlandschaft. Der Schnee hatte Besitz von den Wiesen, Wegen und Bäumen ergriffen und sie mit seinen Kristallen überzogen. Die Äste der Buche vor dem Haus bogen sich schwer unter der ihr auferlegten Last und Joshua beobachtete eine Meise, die dick aufgeplustert auf einem Zweig kauerte.
„Armes Ding“, murmelte er.
Dann konnte er ein Lachen nicht unterdrücken. Sam, der Kater seiner Vermieter, stapfte missmutig durch den Schnee und versuchte erfolglos, einem Eichhörnchen nachzujagen, das geckernd in einer Tanne verschwand.
Aus seiner Vogelfutterration holte Joshua einen Meisenknödel und öffnete das Fenster. Eisige Schneeluft wehte herein und vereinzelte Flocken schwirrten wie Bi enen in der Luft umher. Er beugte sich vor, angelte das leere grüne Netz von einem Zweig und hängte das neue Futter auf. Er hatte das Fenster noch halb geöffnet, da hüpfte der Vogel bereits darauf zu. Joshua wollte sich schon abwenden, als ihm eine Gestalt unten vor dem Haus auffiel. Der Mann starrte direkt zu ihm hinauf. Plötzlich zerfaserten seine Umrisse und er verschwand. Mit Herzklopfen schloss Joshua rasch das Fenster. Keine Sekunde zu früh. Direkt vor der Scheibe tauchte das bärtige Gesicht des Fremden auf. Für einen Augenblick schaute Joshua wie gelähmt in seine hageren Züge, dann wich er zurück. „Verschwinde!“, zischte er.
Der Geist schien wütend über die Abfuhr, Joshua spürte seinen Zorn wie Vibrationen in der Luft. Doch die Erscheinung löste sich auf. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sich Joshua durch das Haar.
Sein Handy gab den vertrauten Blubbton einer SMS von sich und Joshua war froh über die Ablenkung. Er schaute auf das Display. Es war Lea!
Hast du Lust auf einen Schneespaziergang?
Lächelnd tippte Joshua seine Antwort ein. Ja! Wo treffen wir uns?
Am ersten Parkplatz beim Berger See?
Okay! Wann?
In einer Stunde?
Ich bin da!
Rasch stieg er unter die Dusche und versuchte das ungute Gefühl wegen des Geistes abzuwaschen. Nach dem Ankleiden haderte Joshua mit sich, ob er eine Mütze aufsetzen sollte oder nicht. Ratlos hielt er zwei Wollmützen in der Hand.
Sogar Hannah würde mich damit auslachen , dachte er stirnrunzelnd. Er wollte sich bei Lea nicht lächerlich machen, aber er wollte auch nicht frieren. Er kramte in der Schublade mit den Wintersachen und fischte eine graue Mütze ohne Schnickschnack heraus. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er bereits viel zu spät dran war. Rasch polterte er die Treppen hinunter.
Am Hauseingang zögerte Joshua. Ob der Geist immer noch hier weilte? Was wollte der Mann von ihm? Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Tür und blickte sich misstrauisch um. Als er die schneebedeckte Einfahrt sah, vergaß er den ungebeten Gast für einen Moment, denn ihm fiel siedend heiß ein, dass er in dieser Woche Mülldienst hatte. Das bedeutete, dass er auch den Schnee räumen musste.
„Oh verflixt!“
Seine Vermieterin Luise wäre nicht erfreut, wenn er sich vor dieser Arbeit drücken würde. Es bliebe an ihr haften, denn ihr Mann war bereits früh zu seiner Wechselschicht
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