Ruf der Sehnsucht
verlieh. An einem rechteckigen Tisch in der Mitte saßen mehrere Leute bei einem opulenten Frühstück.
Bei Jeannes Eintreten drehte die füllige Frau am Herd sich um und lächelte sie herzlich an. Jeanne erwiderte das Lächeln.
»Wollt Ihr ein französisches Frühstück oder ein englisches, Miss?«
Jeanne ließ den Blick über das reiche Angebot auf dem Tisch wandern und entschied: »Ich nehme nur einen Scone und eine Tasse Tee.«
»Setzt Euch hierher.« Betty deutete zum Kopf des Tisches. Jeanne zögerte, aber Betty winkte sie energisch zu dem Platz.
»Dieser Gentleman ist Stephens, der Kutscher«, begann das Kindermädchen mit der Vorstellung. »Und das ist Malcolm, der Obergärtner.«
Sie zeigte zum Herd hinüber. »Dort steht Granya, unsere Köchin, und Lassiter kennt Ihr ja schon.«
Jeanne nickte und lächelte den Anwesenden zu.
»Isst Lassiter nicht hier?«, erkundigte sie sich.
»Er ist immer schnell fertig mit seinen paar Löffeln Hafergrütze«, erklärte Betty. »Leider lässt er sich nicht überreden, ordentlich zu essen.«
»Gibt es eine Witschafterin?«, wollte Jeanne wissen.
»Nein. Wir haben zwei Dienstmädchen und ein paar von Malcolms Jungen, die noch zu Hause wohnen, kommen jeden Morgen.«
»Vergiss die Stallburschen nicht, Betty«, sagte Stephens mit seiner kratzigen Stimme. Er wandte sich Jeanne zu. »Ich habe drei Jungen, die über dem Stall schlafen. Allesamt brave Burschen. Und Lassiter hat zwei Lakaien unter sich, die sich allerdings auf alles Mögliche verstehen.«
»Es überrascht mich, dass Ihr die Aufgaben, die ein so großes Haus mit sich bringt, mit so wenigen bewältigt.«
Betty lächelte. »Natürlich wäre es leichter, wenn wir mehr Leute wären, aber Mr. Douglas will nun mal nicht so viel Personal.«
»Arbeitet Ihr schon lange für ihn?«
»Seit das Haus steht«, kam Malcolm ihr zuvor. »Also seit etwa sieben Jahren. Bis dahin war ich bei Mr. Douglas’ Bruder Mr. Alisdair.«
Malcolms kurzgeschorener Bart erinnerte Jeanne an eine Mischung aus Pfeffer und Salz. Unter den braunen Augen zogen sich tiefe Falten entlang, aber wenn er, wie jetzt, lächelte, wirkte er wie ein junger Mann.
»Die meisten von uns kennen die Familie MacRae auf die eine oder andere Weise«, erklärte Stephens. »Ich habe auch jahrelang für Mr. Alisdair gearbeitet, bevor ich bei Mr. Douglas anfing. Ich habe die Pferde für ihn gekauft und pflege seine Kutschen. Er ist ein reicher Mann, aber er wirft das Geld nicht zum Fenster raus.«
Die anderen nickten.
»Ich habe in Inverness gearbeitet«, erzählte die Köchin. »Wie Betty.« Die beiden lächelten einander an.
»Ohne Mr. Douglas wäre ich bis ans Ende meiner Tage dort geblieben«, sagte Betty. »Ich war Dienstmädchen bei einer Freundin von Mrs. Mary. Eines Tages kam Mr. Douglas von Gilmuir rüber und fragte mich, ob ich Kindermädchen bei ihm werden wollte. Ich sagte ihm, dass ich keinerlei Erfahrung darin hätte, es aber gerne versuchen würde, und er sagte, dass seine Schwägerin mich ihm empfohlen hätte.« Sie war sichtlich stolz darauf. »Er sagte, sie hätte gesagt, ich hätte ein gutes Herz, und das wäre alles, worauf es ihm ankäme. Und seitdem bin ich hier bei ihm und Miss Margaret.«
»Mrs. Mary?«, fragte Jeanne nach.
»Sie ist mit Mr. Hamish, einem anderen Bruder von Mr. Douglas verheiratet. Die arme Frau darf sich nicht mehr in Schottland blicken lassen.« Betty schüttelte bedauernd den Kopf. Als sie nicht weitersprach, tat es Malcolm für sie.
»Sie war mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, und als der starb, wurde sie des Mordes an ihm verdächtigt.«
Jetzt übernahm wieder Betty die Erzählung. »Bis zu seiner Krankheit war Mr. Gordon ein ausgesprochen netter Arbeitgeber, aber von da an so unleidlich wie kein zweiter. Seine Frau tat alles, um ihn gesund zu machen.«
»Sie war Heilerin, wisst Ihr«, steuerte Malcolm bei.
»Jedenfalls war Mrs. Mary sehr traurig, als er starb. Sie ist ein guter Mensch. Wenn jemand Hilfe brauchte, aber nicht bezahlen konnte, behandelte sie ihn trotzdem. Sie saß viele Nächte am Bett mancher Patienten.«
Betty biss von ihrem Muffin ab und kaute bedächtig, offensichtlich in Erinnerungen an Inverness versunken. Jeanne faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und übte sich in Geduld. Sie hatte im Kloster neun Jahre trainiert, einfach nur auszuharren, doch gelegentlich brach trotzdem noch heute das ungeduldige Mädchen von früher durch.
»Eines Tages kam einer
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