Ruf der Sehnsucht
Miss Margaret nicht schätzte, aber ich freue mich über den Umzug.«
»Gebt mir in paar Minuten«, bat Jeanne. »Ich komme gleich.«
Sie wählte ihr strengstes Kleid, das dunkelblaue, dem von Betty nicht unähnlich, mit der weißen Paspel am Miederausschnitt und den Leinenrüschen, die den halblangen Ärmel abschlossen. Auch was die Frisur anging, orientierte sie sich an dem Kindermädchen, wobei sie mit dem fest geflochtenen, um den Kopf gelegten Zopf eher ihr Temperament zu bändigen trachtete, als ihre Locken. Sie war dazu erzogen worden, Dienstboten zu befehligen, und jetzt sah sie selbst wie eine Dienstbotin in einem herrschaftlichen Haushalt aus.
Das Zimmer, in das Betty sie führte, war größer als erwartet und dank zweier nach Osten gehender hoher Fenster sehr hell. Die Westwand beherrschte ein großes Himmelbett mit beigefarbenen Leinenvorhängen. Die eine Seitenwand wurde von einem Kamin eingenommen, gegenüber standen ein reichgeschnitzter Kleiderschrank und eine Kommode. Den Boden bedeckte ein hübscher ovaler, in Gold und Beige gehaltener Teppich.
»Die Tür da führt in Margarets Zimmer«, beantwortete Betty Jeannes fragenden Blick. »Ihr könnt Euch ganz nach Euren Wünschen einrichten, Miss. Und wenn Ihr Hilfe beim Umzug braucht, klingelt einfach.« Sie deutete auf den Klingelzug neben dem Kamin. »Es läutet zwar in der Küche, aber die Köchin findet mich dann schon.«
»Ich danke Euch, aber was ich besitze, hat in einem Koffer Platz.«
Betty wurde ernst. »Ich weiß, wovon Ihr sprecht, Miss. In der Situation war ich auch schon. Aber Ihr werdet feststellen, dass Ihr in ein Haus gekommen seid, das Ihr Euer Heim nennen könnt.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Möchtet Ihr hier oben frühstücken oder mit dem Hauspersonal unten in der Küche?«
Jeanne überlegte blitzschnell. Sie war als Gouvernante eingestellt worden und hatte sich entsprechend zu benehmen. Wie sie sich in diesem Moment entschied, würde ihre Stellung im Haus prägen.
»Ich würde gerne mit dem Personal frühstücken«, sagte sie. »Lasst mir einen Moment Zeit – ich komme gleich hinunter.«
Betty nickte.
Jeanne packte im Gästezimmer ihren Koffer und schaute sich von der Tür aus noch einmal um.
Wussten die Angestellten, dass Douglas die beiden letzten Nächte mit ihr verbracht hatte? Durchaus möglich. Aber wie alle gut ausgebildeten Dienstboten würden sie es sich nicht anmerken lassen.
In ihrem neuen Zimmer hängte sie nur rasch die Kleider auf – den Rest würde sie nach dem Frühstück auspacken. Nach einem kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel machte sie sich auf den Weg zur Küche.
Am Fuß der Treppe wurde sie vom Majordumus begrüßt, diesmal nur mit einer angedeuteten Verbeugung, denn jetzt war sie kein Gast mehr, sondern die Gouvernante.
»Guten Morgen, Miss.«
»Guten Morgen, Lassiter.« Die Hand noch auf dem Geländer, überlegte sie, ob sie nach Douglas fragen sollte.
»Mr. MacRae hat mich gebeten, Euch Grüße auszurichten. Er ist heute früh verreist.«
Sie hatte einige Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Ich verstehe. Wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich nicht.« Wieder diese angedeutete Verbeugung. Das musste sie dem Mann lassen – er verstand es meisterlich, seine Meinung ohne einen Hauch von Anzüglichkeit zu vermitteln.
»Danke. Könnt Ihr mir sagen, wo ich Betty finde?«
Als er nicht antwortete, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte stirnrunzelnd auf ihn hinunter. Sie mochte vergessen wollen, dass sie die Tochter des Comte du Marchand war, aber die von Kindesbeinen an einstudierte Rolle war ihr in Fleisch und Blut übergegangen und jederzeit abrufbar. »Nun, Lassiter?«
Er wackelte mit einer seiner weißen, buschigen Brauen, und Jeanne unterdrückte ein Lächeln, als sie begriff, dass das Lassiters Ausdruck von Überraschung war.
»Hier entlang, Miss.« Eine dritte, angedeutete Verbeugung, und dann schlurfte er vor ihr her den Korridor hinunter bis zu einem großen, luftigen Raum im rückwärtigen Teil des Hauses.
»Miss«, sagte er, als kündige er sie an, trat beiseite, ließ sie eintreten und verschwand.
Lassiter verstand sich auch meisterlich darauf zu verschwinden.
An einer Ecke des Hauses gelegen, hatte die Küche Licht von zwei Seiten. Allerdings wurde es gedämpft, denn es musste sich durch das Blätter- und Nadelwerk der Gewürze kämpfen, die in Töpfen auf den Fensterbrettern wucherten, was dem Raum die Atmosphäre eines Wintergartens
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