Ruf der Sehnsucht
»Wie könnte sie das nicht, Papa?«
»Ihr habt es gehört«, wandte Douglas sich an Jeanne. »Hiermit seid Ihr verpflichtet, begeistert zu sein.«
»Aber das bin ich doch«, erwiderte sie lächelnd. »Was soll ich mir als Nächstes ansehen, Margaret?«
Seine Tochter überlegte. Er war sicher, dass sie sich für den Tresor entscheiden würde. Die Gold- und Silberbarren faszinierten sie – nicht ihres Wertes, sondern ihres Glanzes und ihres Gewichts wegen. Als sie ihre Entscheidung verkündete, lächelte er in sich hinein.
»Den Tresor. Zuerst die Barren und dann die Gewürze.«
»Dann also auf zum Tresor«, kommandierte Douglas.
Er ging voraus zu einer breiten Treppe mit flachen Stufen, offensichtlich so konzipiert, um den Arbeitern das Hinauftragen schwerer Lasten zu erleichtern.
Auf dem Weg erklärte Douglas Jeanne das System der Lagerung. »Aus Sicherheitsgründen werden bestimmte Güter oben aufbewahrt. Wir sind hier dicht am Wasser, und es gibt immer wieder Überschwemmungen. Tee und Gewürze wären dann unwiederbringlich verloren.«
»Und das Gold und das Silber?«
»Das ist natürlich gegen Nässe gefeit – aber nicht gegen Diebstahl. Und unser Tresor ist absolut diebstahlsicher.«
Am Kopf der Treppe gab es drei Türen. Eine führte ins Kontor, die mittlere zum Tresor und die ganz links ins Tee- und Gewürzlager.
Margaret übernahm die Führung, öffnete die mittlere Tür und ging nach einem ungeduldigen Blick über die Schulter zu ihrem Vater und ihrer Gouvernante auf die große Tresortür mit dem Rad zu. Douglas hatte sie kaum geöffnet, als seine Tochter sich an ihm vorbeidrängte.
Der Raum, dessen Wände, Decke und Boden zum Schutz gegen Feuer mit Backsteinen und Stein verstärkt waren, beherbergte einen Reichtum, der nicht nur Douglas, sondern auch seinen Brüdern gehörte. In den sich auf den Längsseiten entlangziehenden Regalen lagen Gold- und Silberbarren und auf den Borden an der Stirnwand Beutel mit Goldstaub. Auf dem untersten Brett lag eine Reihe kleiner Zugbandbeutel mit Margarets Namen darauf – und an dem Tag, den Douglas mangels Wissen zu ihrem Geburtstag bestimmt hatte, kam jedes Jahr einer dazu.
Das Hauptgeschenk wählte er stets mit größter Sorgfalt aus, denn es sollte ihre Phantasie anregen und sie auf eine spezielle Weise an das vergangene Jahr erinnern. Da er so lange nicht gewusst hatte, ob sie am Leben bleiben würde, war jeder Geburtstag etwas ganz Besonderes, ein wahrer Feiertag.
Zum letzten hatte er ihr ein kunstvoll geschnitztes Elfenbeinkästchen aus dem Orient geschenkt und ein Stück Ginseng hineingelegt, das er gefunden hatte. Die runzlige, verwitterte Wurzel erinnerte ihn an eine mit ausgestreckten Armen tanzende Gestalt. Er hatte Margaret einmal in dieser Pose gesehen, und die Wurzel erinnerte ihn an sie. Im Orient betrachteten die Menschen eine Ginsengwurzel, die ihnen ähnelte, als Glücksbringer.
»Darf ich Miss du Marchand jetzt die Gewürzkammer zeigen, Papa?«
»Vielleicht interessiert deine Gouvernante sich gar nicht dafür.« Er schaute Jeanne provozierend an.
»Ich kann auch in der Kutsche warten«, sagte sie ruhig.
»Warum solltet Ihr?«
»Ihr scheint zu glauben, dass ich mich langweile.«
»Und – ist es nicht so?«
»Absolut nicht. Ich habe in sehr kurzer Zeit sehr viel gelernt.«
»Nämlich was?« Er merkte, dass sein Ton zu scharf war, doch Jeanne hielt seinem Blick unverwandt stand.
Douglas sah von einer Fortsetzung der Diskussion ab, denn Margaret hatte schon wieder die Ohren gespitzt. Er betätigte den Klingelzug, den er für den Fall hatte installieren lassen, dass sich jemand versehentlich im Tresor eingesperrt hatte.
Als ein junger Mann erschien, der in Jims Gruppe arbeitete, wies Douglas ihn an, Henry Duman zu suchen und herzubringen.
Henry war der älteste seiner Angestellten, ein Veteran aus dem Krieg mit Amerika. Da er einer der Zuverlässigsten war, wurde er häufig mit heiklen Aufgaben betraut. Auch seine kürzliche Reise nach London gehörte dazu. Douglas hatte ihn als Bevollmächtigten zu Verkaufsverhandlungen bezüglich eines Grundstücks an der Themse dorthin geschickt. Henry war taktvoll, ideenreich und vor allem absolut loyal.
Kurze Zeit später betrat, sich unter dem niedrigen Türstock bückend, ein Mann den Raum. Mit seinen viel zu langen Armen und Beinen sah er aus, als wäre er auf dem Streckbett gefoltert worden. Sogar sein Gesicht war lang, das spitze Kinn durch einen graumelierten Bart gemildert.
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