Ruf der Sehnsucht
Damit kann man weit in die Ferne sehen.«
Sie wollte ihn bitten, es ihr vorzuführen, doch jetzt war nicht der Zeitpunkt für Wunder der Wissenschaft oder das Eintauchen in Douglas’ Interessen. Er hatte etwas im Sinn. Es war ihr schon den ganzen Tag aufgefallen, dass er sie immer wieder seltsam ansah, doch sie wusste sich keinen Reim darauf zu machen.
»Aber nicht in die Vergangenheit«, setzte er hinzu.
Sie warf ihm über die Schulter einen kurzen Blick zu und schaute dann auf den Hafen hinaus. Ein prächtiges weißes Schiff lag am Ende des Kais. Zwei schwarze Masten mit eingeholten Segeln ragten in den blauen Himmel, der pfeilförmige Bug erweckte den Eindruck, als könnte das Schiff es nicht erwarten, wieder auf dem Meer zu sein. In schwungvollen roten Lettern stand der Name auf der Seite geschrieben:
The Sherbourne Lass.
Douglas hatte recht, dachte Jeanne, die Vergangenheit lag im Dunkeln – aber der Schmerz, den sie ihr bereitet hatte, war noch genauso stark wie damals.
»Ich sollte nach Margaret sehen«, sagte sie.
»Meggie wird noch eine gute Viertelstunde beschäftigt sein, Jeanne. Das gibt uns Zeit zu reden.«
Sie wollte nicht reden. Jedes Mal, wenn sie es taten, gab sie ein wenig mehr von sich preis.
Bisher war ihre Vergangenheit nur angedeutet worden, nicht enthüllt. Douglas hatte die Narben gesehen, aber Jeanne hatte ihm nicht offenbart, dass sie während der Auspeitschungen im Geist seinen Namen geschrien hatte, um sich von den Schmerzen abzulenken. Sie hatte ihm erzählt, dass sie nach ihrer Flucht aus dem Kloster nach Vallans zurückgekehrt war, aber nicht, dass sie beinahe Hungers gestorben wäre. Er wusste, dass sie nach Frankreich geflohen war, aber er kannte keine Einzelheiten dieser schrecklichen Reise.
Und er hatte keine Ahnung von dem größten aller Geheimnisse – dass sie ein Kind von ihm bekommen hatte.
Sag es ihm. Sag es ihm und dann geh. Sag ihm, was damals geschehen ist.
Nachdem sie ihr Gewissen erleichtert und ihre Seele von dieser Last befreit hätte, würde sie ihn fragen, warum er sie im Stich gelassen hatte.
Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Sie wollte ihn nicht verlassen. Oder Margaret. Sie hatte das Mädchen ins Herz geschlossen.
Jeanne nahm all ihre Kraft zusammen und drehte sich zu Douglas um. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er wütend war.
Seine Wut machte ihr keine Angst – das tat nur die Wahrheit.
»Ich muss fort«, hörte sie sich zu ihrem Erschrecken sagen. Aber es war am besten so. Es war schmerzvoll, ihn zurückzuweisen, aber nicht so schmerzvoll, wie von ihm zurückgewiesen zu werden. Vielleicht würde sie die Stärke, die sie ihm damit bewies, ja verinnerlichen können.
»Erst reden wir über Paris.«
»Nein.« Sie wollte auch nicht über Paris reden. »Wenn du so freundlich wärest, den Kutscher anzuweisen, mich zu deinem Haus zu fahren, packe ich meine Sachen und gehe.«
»Ich wollte damals in Paris zu dir«, sagte er, als hätte er sie nicht gehört. »Ich wollte dir erzählen, dass meine Eltern gekommen waren, und dich ihnen vorstellen. Stattdessen wurde ich von der Hausdame abgefertigt.«
Jeanne schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. Enthüllungen würden sie zerstören. Sie wollte die schöne Erinnerung an ihr letztes Zusammensein nicht zunichtemachen, indem sie weinend sein Verständnis erflehte.
»Sie erzählte mir, dass du ein Kind erwartetest.«
Jetzt begann es, das endlose Fragen, die Verachtung, das Entsetzen.
Sie schloss die Augen und atmete tief, wünschte inständig, dass es eine andere Wesenheit gäbe als Gott, zu der sie beten könnte. Der Gott von Sacré-Cœur war abwechselnd rachsüchtig und unaufmerksam, schnippte mit den Fingern, als wollte er sie allein dafür bestrafen, dass sie lebte. Nach einiger Zeit hatte sie ihn sich als einen himmlischen Comte du Marchand vorgestellt, mit weißgepudertem Haar und einem goldglänzenden, aus Sonnenstrahlen gewebten Anzug.
Sie öffnete die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. »Fängst du jetzt damit an, weil du wütend bist, dass ich dich nicht mehr in mein Bett lassen wollte?«
Überraschung malte sich auf seinem Gesicht.
Jeanne ging auf ihn zu. »Also gut«, sagte sie. »Komm heute Nacht zu mir.« Ein paar Schritte vor ihm blieb sie stehen. »Oder jetzt.« Sie schaute zum Schreibtisch. »Dort.«
Auf dem Weg löste sie die Kinnbänder ihres Hutes und warf ihn quer durch den Raum zu einem Stuhl,
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