Ruf der Sehnsucht
beobachtete ungerührt, wie der Kopfputz auf den Boden fiel. Sie schob die Schreibunterlage zur Seite und setzte sich auf die Tischkante. Ohne Douglas aus den Augen zu lassen, begann sie, das Mieder ihres Kleides aufzuschnüren.
»Was tust du da?«, fragte er mit heiserer Stimme. Es war ihr gelungen, ihn aus dem Konzept zu bringen.
»Ich mache mich bereit für dich. Soll ich alles ablegen, oder genügt es, wenn ich die Röcke hochschlage? Ich mag es, wenn du meine Brüste küsst, aber bitte zerreiße mein Unterhemd nicht – ich habe keinen Schrank voll.«
»Hör auf, Jeanne.«
»Ich soll aufhören?«, spielte sie die Bestürzte, schnürte jedoch weiter ihr Oberteil auf und zog es dann auseinander, so dass ihr Korsett und das fadenscheinige Hemd darunter sichtbar wurden. Sie kam sich kühn und durchtrieben vor und absolut schamlos. Als junges Mädchen hatte sie ihm mit Freuden am hellen Tag beigewohnt – jetzt war sie nicht von Kühnheit beflügelt, sondern vielmehr von dem verzweifelten Wunsch getrieben, ihn von seinen Fragen abzulenken.
»Begehrst du mich denn nicht?«, fragte sie.
»Mehr als gut für mich ist.« Er trat dicht vor sie hin. »Wenn es nicht so wäre, dann würde ich dich fortschicken. Dann hätte ich dich schon längst fortgeschickt.«
»Wenn es so ist, dann sollten wir uns vielleicht einfach aneinander erfreuen und alles andere vergessen.« Sie umfasste mit einer Hand seinen Nacken. »Wenigstens für eine Weile.«
Mach die Jahre ungeschehen. Mach das Unglück ungeschehen.
Sie richtete die Bitte nicht an Douglas, denn die Erfüllung war ihr schon von Gott verweigert worden – aber vielleicht würde der Allmächtige Douglas und ihr den Mut verleihen, wie damals zu ihrer Liebe zu stehen.
Als Douglas Jeanne vom Schreibtisch herunterhob, fiel ihr Blick auf einen etwa anderthalb Meter breiten und mindestens ebenso hohen Kabinettschrank mit Glastüren. Jeanne ging hinüber und betrachtete die kleinen Skulpturen auf den drei Borden. Einige waren nicht größer als eine Handspanne, andere lebensgroße Büsten und wieder andere Fragmente von Reliefs.
Und alle sahen ihr ähnlich.
»Wo hast du die her?«, fragte Jeanne mit schwacher Stimme.
»Von überall auf der Welt.«
Die Büste auf dem obersten Bord, eine blassgraue Darstellung eines jungen Mädchens, hatte Farbflecken auf dem Gesicht.
Jeanne deutete darauf. »Phönizisch?«
»Griechisch.«
Das Haar war über der Stirn hochgelockt, die einzelnen gelockten Strähnen am Hinterkopf waren zusammengebunden, an den Schläfen fielen Ringellocken herab. Diese Frisur hatte Jeanne am Tag ihres Kennenlernens getragen.
Auf dem zweiten Bord stand eine Statuette, die den Kopf leicht schräg hielt, als lausche sie einem fernen Geräusch.
Daneben stand ein Mädchen, das mit einer Hand den Saum seine Röcke anhob, als wolle es zu tanzen beginnen.
Jeanne erinnerte sich, wie sie einmal zum Lied des Windes getanzt und, als sie aufhörte, sich zu drehen, Douglas an einem Baum hatte lehnen und sie beobachten sehen. An jenem Tag hatten sie sich zum ersten Mal geliebt.
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Du hast es nicht vergessen«, brachte sie mühsam hervor.
»Nein.«
Sie fuhr zu Douglas herum. »Warum?«, wollte sie wissen. »Warum hast du all diese Dinge gesammelt, die aussehen wie ich?«
»Weil diese Erinnerungen die kostbarsten meines Lebens waren.«
Vielleicht erhörte Gott ja doch einige ihrer Gebete.
Sie wollte sich bewegen, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Nicht einmal, als Douglas auf sie zutrat und mit dem Finger zart von ihrer Schläfe zu ihrem Kinn hinabfuhr.
»Was ist aus dem Kind geworden, Jeanne?«
In ihrer Not suchte sie Zuflucht bei einer Gegenfrage: »Wer ist Margarets Mutter?«
Er antwortete nicht, aber sie erkannte, dass er litt.
Sie legte die Hand an seine Brust. »Siehst du, Douglas – Fragen können uns weh tun«, sagte sie. »Und die Wahrheit könnte uns zerstören.«
»Du möchtest sie lieber totschweigen?«
»Ja. Wir sollten einander nicht alles offenbaren.«
»Ich habe nichts zu verbergen.«
»Ich schon«, gestand sie geradeheraus. »Aber die Jahre im Kloster haben mich gelehrt, Selbsterniedrigung zu verabscheuen. Also werde ich dir nicht alles enthüllen, was ich getan habe.«
»Ich kann deine Einstellung nicht vollends teilen«, erwiderte er. »Es gibt Wahrheiten, die müssen ausgesprochen werden.«
Jeanne schüttelte heftig den Kopf. »Nein, die gibt es nicht, und ich werde es dir beweisen. Ich wurde
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