Ruf der Sehnsucht
Margaret beim Dinner Gesellschaft leisten würdet, Miss.«
Jeanne zwang sich zu einem Lächeln. »Heute Abend nicht. Bitte richtet ihm aus, dass ich es vorziehe, auf meinem Zimmer zu essen.«
»Ich sage der Köchin Bescheid.«
»Danke.« Später, wenn Betty das Kind bettfertig machte, würde Jeanne wie jeden Abend Margaret über Gilmuir und die anderen Themen schnattern hören, die sie gerade beschäftigten. Was das sein würde, wusste man vorher nie. Gestern war es die Form der Regentropfen gewesen, vorgestern das Quaken der Frösche.
Jeanne nahm ihr einsames Abendessen an dem Tisch beim Fenster ein und ließ den Blick über die Häuser gegenüber wandern. Führten die Menschen, die dort wohnten, ein Leben in Harmonie oder Verzweiflung? Hatten sie jemanden, den sie liebten, oder waren sie einsam?
Vielleicht dachte in diesem Augenblick hinter einem jener Fenster jemand genau das Gleiche wie sie gerade.
Ihre Gedanken machten einen Sprung. Wie hätte ihr Leben in den letzten zehn Jahren ausgesehen, wenn sie Douglas damals nicht kennengelernt hätte? Sie hätte nie erfahren, wie sich Glückseligkeit anfühlte, aber auch nie abgrundtiefe Verzweiflung erlebt. Sie hätte wahrscheinlich ein angenehmes Leben geführt und sich immer gefragt, was sie vermisste. Gelegentlich hätte sie sich vielleicht nach ein wenig Abenteuer gesehnt, nach mehr Gefühl, aber es wäre ihr jetzt bestimmt nicht zumute, als ob ihr das Herz bräche.
Es klopfte wieder, und gleich darauf ging die Verbindungstür auf. »Darf ich hereinkommen, Miss du Marchand?«, fragte Margaret.
Jeanne nickte.
Das Mädchen war seiner gesellschaftlichen Stellung und dem Zeitgeschmack entsprechend gekleidet, trug ein rosafarbenes Kleid aus schimmernder Seide; ein mit kleinen, rosafarbenen Rosetten verziertes weißes Fichu aus Spitze bedeckte Hals und Dekolleté. Die gleiche Spitze umrandete die Halbärmel.
»Ich konnte Euch noch gar nicht zeigen, was Henry mir diesmal mitgebracht hat.«
Sie streckte Jeanne eine Miniatur hin. »Das ist Gilmuir. Er hat das Castle nach Zeichnungen von Tante Iseabal von einem Künstler in London malen lassen. Ist es nicht wunderschön?«
Jeanne betrachtete das Bild. Es war mit Rahmen nicht größer als Margarets Handfläche.
»Ja, es ist wirklich sehr hübsch. Danke, dass du es mir gezeigt hast.«
Margaret wandte sich zum Gehen, blieb kurz vor der Verbindungstür jedoch stehen und drehte sich um. »Habt Ihr geweint, Miss du Marchand?«
»Ja«, antwortete Jeanne wahrheitsgemäß und fragte sich im nächsten Moment, ob das klug gewesen war.
»Vermisst Ihr Euer Zuhause? Eure Familie?«
»Ja.« Auch das war die Wahrheit.
»Ihr könnt doch hier zu Hause sein – und Papa und ich können Eure neue Familie sein.«
Der rührende Eifer des Kindes ließ Jeanne beinahe aufs Neue in Tränen ausbrechen.
»Ich danke dir, Margaret. Das ist sehr lieb und großzügig von dir.«
»Papa hat beim Dinner gesagt, meine Mutter wäre wie Ihr gewesen«, sagte das Mädchen.
»Wirklich?«
Margaret nickte. »Und diesmal hat er dabei gar nicht traurig ausgesehen. Ich glaube, er mag Euch.« Sprach’s und schloss leise die Verbindungstür hinter sich.
Kapitel 29
E in Wimmern aus dem Kinderzimmer weckte Jeanne aus unruhigem Schlaf. Sie schlüpfte in Morgenmantel und Hausschuhe und ging hinüber, stellte ihre Kerze auf das Nachttischchen und setzte sich auf die Bettkante. Dann rüttelte sie das Kind sanft an der Schulter. Margaret weinte im Schlaf, ein Anblick, der Jeanne fast das Herz brach.
»Margaret«, flüsterte sie. Die Lider des Mädchens flatterten. »Meggie«, benutzte Jeanne zum ersten Mal Douglas’ Kosenamen für seine Tochter. »Hab keine Angst, es war nur ein Traum.«
Das Kind seufzte schlaftrunken, rückte näher an Jeanne heran, nahm ihre Hand und drückte sie an ihre Wange. Lächelnd strich Jeanne ihr mit der freien Hand das feuchte Haar aus dem Gesicht.
»Manchmal hilft es, über einen Traum zu sprechen«, sagte sie. »Erinnerst du dich denn daran?«
»Nein.«
»War wieder der Wolf da?«
Margaret schüttelte den Kopf, atmete zittrig ein und langsam aus.
»Möchtest du, dass ich bei dir bleibe, bis du wieder eingeschlafen bist?«
»Ja, bitte.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
»Bitte zwingt mich nicht, diesen chinesischen Tee zu trinken, wie Betty es immer tut.« Margaret schnitt eine Grimasse. »Wenn sie sagt, dass sie welchen aus der Küche holt, tue ich immer so, als ob ich schlafe, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher