Ruf der Sehnsucht
Tochter irgendwann wiederzusehen, sie im Kloster am Leben erhalten hatte. Sie wollte ihm nicht erzählen, wie grauenvoll es für sie gewesen war, von den Häuslern zu hören, dass ihr Kind tot war, und wie sie sich, als sie an der Stelle kniete, wo ihre Tochter verscharrt worden war, inständig wünschte, hier bei ihr zu sterben.
Aber sie war nicht gestorben.
Jeanne schlang fest die Arme um ihre Mitte, um ihr Zittern einzudämmen. Gott hatte ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt und sie gleichzeitig mit Douglas’ Hass und Verachtung bestraft.
Als sie damals die Klostermauern hinter sich lassen konnte, hatte sie sich geschworen, nie wieder im Leben um etwas zu bitten. Nur gut, dass Douglas nicht wusste, wie nahe daran sie in diesem Augenblick jedoch war. Jeanne streckte die Hand nach ihm aus und sah sie zittern. Als er sich nicht rührte, sie nur schweigend anstarrte, ballte Jeanne sie zur Faust und presste sie an ihre Brust.
In diesem Moment wünschte sie sich Zauberkräfte. Dann würde sie die Vergangenheit auslöschen, all das Leid und die Grausamkeiten ungeschehen machen, Douglas würde sie vergöttern, und sie wäre, wie sie immer hatte sein wollen. Aber es gab keine Zauberei, und nicht einmal Gebete versprachen Erfolg.
Wie Jeanne Douglas da wortlos gegenüberstand, war es ihr, als trenne die Vergangenheit sie beide wie ein glitzernder Vorhang. Als Douglas sich umdrehte und ging, erkannte sie, dass es ihre Tränen waren.
Margaret wartete, bis Betty eingeschlafen war, schlich nach unten in ihr Zimmer, kleidete sich an und machte sich mit der Küchenlaterne auf den Weg zum Stall. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn sie dem Pferd einen Sattel hätte auflegen können, aber der war viel zu schwer für sie.
Obwohl sie Nolly auswählte, das frömmste der Kutschpferde, kostete es Margaret allein ob seiner Größe einige Mühe, ihm den Zaum anzulegen.
Als es endlich geschafft war, führte sie das Tier zur Aufsteigehilfe, packte die Mähne und zog sich hinauf.
Draußen im Freien versetzte sie Nolly einen leichten Klaps mit den Zügeln, und die Stute setzte sich brav in Bewegung.
Zur Sicherheit hatte sie ein Paar Münzen aus der Kassette ihres Vaters in der Bibliothek genommen – man wusste ja nie, was kommen würde.
Sie kannte den Weg nach Leith in- und auswendig, aber diesmal kam er ihr viel länger vor als sonst. Vielleicht, weil es ihr nicht ganz geheuer war, durch die totenstille, dunkle Stadt zu reiten.
Ihr Vater würde böse sein, weil sie von zu Hause weggelaufen war – aber sie musste unbedingt mit jemandem reden, und in diesem Fall nicht mit ihm, denn wie es schien, hatte er sie angelogen.
Und auch nicht mit Miss du Marchand, denn um die ging es ja.
War die Gouvernante wirklich ihre Mutter, oder hatte sie, Margaret, sich vielleicht verhört? Immerhin war sie schon auf dem Flur gewesen.
Tante Mary würde es wissen. Allerdings befand Tante Mary sich auf einem Schiff vor Gilmuir.
Endlich tauchten die drei Gebäude von »MacRae Brothers« vor Margaret auf. Sie hatte sich überlegt, Henry zu bitten, ihr zu helfen, und hoffte, ihn anzutreffen. Sie hatte ihn oft genug sagen hören, dass er wegen des Papierkrams die Nacht durcharbeiten müsse, wenn ein Schiff eingelaufen war. Plötzlich trat jemand aus dem Schatten, packte Nolly beim Zaum und brachte das Pferd so abrupt zum Stehen, dass Margaret um ein Haar heruntergefallen wäre.
Zweimal war Douglas versucht, zu ihr zu gehen, und zweimal hielt er sich zurück. Er konnte den Ausdruck in Jeannes Augen nicht vergessen.
Entgegen seiner Erwartung hatte sie kein Geständnis abgelegt. Sie hatte ihn weder angefleht, ihr Handeln zu verstehen, noch sich verteidigt. Hätte eine schuldige Frau nicht versucht, ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen? Und die Erkenntnis, dass Margaret lebte, schien sie wirklich geschockt zu haben.
All die Jahre hatte er sich gewünscht, dass Jeanne als Strafe dafür, dass sie ihr Kind im Stich gelassen hatte, etwas Schreckliches zustoßen möge. Jetzt sah es so aus, als hätte er sie zu Unrecht der Gewissenlosigkeit bezichtigt.
Das Unbehagen, das dieser Gedanke ihm bereitete, wurde zur Qual.
Ihre Sorge um Margaret war aufrichtig gewesen. Sie hatte ihn aufgefordert, seiner Tochter eine Brille zu besorgen, sie war sanft und verständnisvoll gewesen, hatte über die Scherze des Kindes gelacht und Nachsicht geübt. Das war nicht das Verhalten einer herzlosen Frau.
Aber wenn sie ihre gemeinsame Tochter nicht im Stich
Weitere Kostenlose Bücher