Ruf der Sehnsucht
zurückkommt. Der Tee schmeckt entsetzlich.«
»Ich verspreche, dir keinen chinesischen Tee aufzunötigen. Ich dachte eher daran, dir den Rücken zu reiben. Oder dir deine Lieblingspuppe zu bringen.«
»Ich spiele schon seit einer Ewigkeit nicht mehr mit Puppen, Miss du Marchand«, sagte Margaret von oben herab.
Jeanne lächelte. »Entschuldige vielmals – ich hatte dein fortgeschrittenes Alter nicht bedacht.«
»Papa macht mir heiße Schokolade, wenn ich nicht schlafen kann.«
»Oh.« Jeanne hatte noch nie heiße Schokolade gemacht. Als sie das Margaret gestand, machte diese zwar große Augen, lächelte sie dann jedoch an.
»Ich könnte Euch zeigen, wie es geht.«
»Eine gute Idee.«
»Aber wir müssen mucksmäuschenstill sein.«
»Wir können es als einen Abenteuerausflug betrachten«, sagte Jeanne. Es war ihre letzte Nacht in diesem Haus, das letzte Mal, dass Margaret sie amüsieren oder mit Fragen verblüffen würde.
Das Kind streckte die Füße unter der Bettdecke hervor und setzte sich auf.
»Dann gehen wir jetzt in die Küche, ja, Miss du Marchand?« Ihre Augen blitzten, der Alptraum war vergessen.
Jeanne schlug die Decke zurück – und erstarrte. Ihre Finger krallten sich in den Stoff. Das Nachthemd des Mädchens war hochgerutscht und hatte ein halbmondförmiges, dunkelrotes Mal auf dem Oberschenkel entblößt.
»Ihr braucht Euch nicht die Mühe zu machen, Miss du Marchand«, sagte Douglas.
Jeanne fuhr herum und sah ihn in seinem dunkelblauen Hausmantel und mit einer Kerze in der Hand in der Tür stehen. »Ich werde die Schokolade für Meggie kochen.«
In Jeannes Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie streckte die Hand in seine Richtung, aber es war eher ein Fernhalten als ein Herbitten. Am ganzen Körper zitternd, stand sie auf und wich einen Schritt vor Margaret zurück und einen zweiten vor Douglas. Schwindlig, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, schaute sie von einem zum anderen.
Margarets Miene drückte Neugier aus, die von Douglas verriet nichts. Er trat ans Bett und betätigte den Klingelzug daneben.
Jeanne wollte Douglas anschreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie schlang die Arme um ihre Mitte, um nicht mit den Fäusten auf ihn loszugehen.
»Ich habe ihr Grab gesehen«, sagte sie schließlich. Ihr Herzschlag dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie das Gefühl hatte, schreien zu müssen, um verstanden zu werden. »Ich habe gesehen, wo sie beerdigt worden ist.«
Douglas machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich erneut zurück, bis sie den Türstock in ihrem Rücken spürte.
»Ich habe ihr Grab gesehen.«
Douglas runzelte die Stirn, als verwirrte ihn, was er hörte.
»Du hast mich hinters Licht geführt«, sagte Jeanne mit erstickter Stimme.
Die Gefühle überwältigten sie. Es gab keine Worte, die hätten vermitteln können, was sie empfand. Jeanne drehte sich zur Wand und betrachtete die beigefarbene, mit bunten Jasminblüten bestickte, seidene Bespannnung. Douglas war nichts zu teuer für Margaret. Meggie.
Jeanne schloss die Augen und zwang sich zu atmen.
Sie hörte Douglas näher kommen. »Ich fand sie dem Hungertod nahe bei einem alten Ehepaar in der Nähe von Vallans. Aber warum erzähle ich dir das – du weißt ja, wo sie war. Lange Zeit glaubte ich bei jedem Atemzug von ihr, es wäre der letzte.«
»Ich habe ihr Grab gesehen«, wiederholte Jeanne tonlos. Sie merkte erst an dem salzigen Geschmack auf ihren Lippen, dass sie weinte. »Die alte Frau führte mich hin. Es war nicht gekennzeichnet, weder mit einem Stein noch mit einem Kreuz. Sie hatten sie einfach sterben lassen.«
Die Tür ging auf, und Douglas sagte: »Nehmt Margaret bitte mit in Euer Zimmer, Betty.«
Jeanne schüttelte langsam den Kopf. »Du hast mich als Gouvernante für meine eigene Tochter eingestellt.«
Die Tür wurde geschlossen.
Jeanne drehte sich zu Douglas um. »Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?«
»Warum hätte ich es tun sollen? Du hast nie ein Wort über unsere Tochter verloren, mir nicht einmal geantwortet, als ich dich nach ihr fragte. Du hast sie zu Leuten gegeben, die sie hätten sterben lassen, Jeanne!«
Natürlich hätte sie sich verteidigen können, aber sie wollte ihm nicht von dem entsetzlichen Moment erzählen, als das Kind ihr unmittelbar nach der Geburt weggenommen wurde. Sie wollte ihm nicht erzählen, wie sie geschrien hatte, bis ihr die Stimme versagte. Sie wollte ihm nicht erzählen, dass nur die Hoffnung darauf, ihre
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