Ruf der Vergangenheit
trotzdem?“
„Ja.“ Sie nickte. „Wie du sicher weißt, machen manche Gaben anfällig für Geisteskrankheiten – oder erfordern so viel Kraft, dass sie zu diesen Erkrankungen führen.“
„Erzähl weiter.“
„Zum Beispiel haben einige Telepathen mit großen Kräften Schwierigkeiten, Schilde aufzubauen – als wären ihre Fähigkeiten so stark, dass sie nach draußen dringen müssen. Durch Silentium haben sie zumindest die sichere Begrenzung der Gefühllosigkeit – die empfangenen Dinge berühren sie nicht so stark.“
Dev überlegte. „Man hört einiges über die Justiz-Medialen.“
„Ja. Sie arbeiten so eng mit Menschen zusammen, dass sie geradezu prädestiniert sind, Silentium zu brechen.“
Und wenn Justiz-Mediale brachen, kamen böse Leute leicht zu Tode. Dev hielt das nicht für unbedingt schlecht, aber wenn schon gut ausgebildete J-Mediale ihre Fähigkeiten nicht im Zaum halten konnten, wie sollte es dann einem Siebenjährigen gelingen? „Legen die J-Medialen deshalb immer zwischen den verschiedenen Fällen eine Pause ein?“
Katya nickte. „Soweit ich weiß, arbeiten sie immer etwa einen Monat und begeben sich dann in eine intensive Neu-Konditionierung, bevor sie wieder einen Fall übernehmen.“ Sie sah ihm in die Augen. „Wir haben dieselbe Abstammung“, murmelte sie. „Es ist unvermeidlich, dass auch unter Mischlingen durch Mutationen und Rekombinationen Individuen entstehen, die den Medialen näher als den Menschen sind.“
Er hatte gewusst, dass sie sofort begreifen würde, worauf er hinauswollte – sie war eben viel zu klug. „Sicher ist der Rat auch schon zu dem Schluss gekommen.“
„Schon möglich. Aber in den oberen Ebenen der Regierung herrscht eine gewisse Arroganz – die Medialen sind so gewohnt, sich für die mächtigste Gattung zu halten, dass sie die Macht der Natur einfach vergessen.“ In ihren Augen stand Sorge. „Dev, falls dein Volk das in Betracht zieht, was ich vermute – tut es nicht.“
„Du hast doch gerade gesagt, dass es bei einigen Gaben die einzige Möglichkeit ist.“
Sie drückte seine Hand. „Aber es tötet auch etwas, sowohl im Individuum als auch im ganzen Volk. Das Medialnet … ist wunderschön, aber es stirbt, Stück für Stück. Es geht gar nicht anders. Denn wir geben ihm nichts als Leere.“
Dev verstand, warum sie von dem geistigen Netzwerk wie von einem lebendigen Wesen sprach. Das Schattennetz besaß ebenfalls ein Wesen, einen lebendigen Ausdruck, eine Seele, allerdings weit jünger als sein Gegenpart im Medialnet. „Ich habe Gerüchte über einen Netkopf gehört.“
„Es gibt auch einen Dunklen Kopf.“ Ihre Stimme klang seltsam hohl. „Ming hat es mir erzählt – er glaubte wohl, ich würde mich nicht daran erinnern, oder es war ihm egal, ob ich es wusste. Der Netkopf ist in zwei Teile gespalten.“
Mehr brauchte sie nicht zu sagen – wenn selbst das Medialnet zerrissen war, wie konnte dann Silentium die Lösung sein? Und doch … „Die Zahl der Mörder im Medialnet hat sich aber durch Silentium tatsächlich verringert?“
„Ja.“ Sie schluckte. „Eine Zeitlang war es wohl wirklich besser. Wir konnten endlich wieder aufatmen, ohne uns dauernd überlegen zu müssen, was wir tun könnten oder was uns angetan werden könnte. Aber bald fürchteten wir uns vor etwas anderem.“
„Vor dem Rat.“ Dev überlegte. „Solche Machtstrukturen sind unvermeidlich, wenn man sich Silentium unterwirft – eher gefühllose Individuen sind dadurch im Vorteil, Leute, die bereits von Natur wenig oder gar nicht empathisch sind.“ Psychopathen eben.
„Für diesen Fehler im System sind wir blind.“ Katya legte den Kopf an seine Schulter. „Was wirst du jetzt tun?“
„Für mein Volk kämpfen.“
Archiv Familie Petrokov
Brief vom 1. Januar 1979
Lieber Matthew,
die Entscheidung ist gefallen. Silentium wird eingeführt. Dein Vater und ich wussten, dass es so kommen würde. Wir haben unsere Vorbereitungen getroffen.
Meine Kleinen, ich liebe euch so sehr. Wir könnten sterben bei unserem Vorhaben. Ich kann und will euch die Wahrheit nicht vorenthalten. Manchmal denke ich, es ist Heuchelei, anderen vorzuwerfen, ihre Kinder dem Rat zur Konditionierung zu überlassen, während man selbst die eigenen Kinder in tödliche Gefahr bringt, aber ich kenne euch einfach zu gut.
Du, mein kleiner Matty, bist ein Künstler, bist nur du selbst, wenn dein Gesicht voller Farbspritzer ist und deine Finger in tausend Farben schimmern.
Und meine
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