Ruf der verlorenen Seelen
mich hat das nicht so ganz
überzeugt. Es gab da einen üblen Exmann, der immer wieder
zu ihr an den Arbeitsplatz kam und versuchte, sie zurückzugewinnen,
obwohl sie schon seit Jahren geschieden waren. Bei
ihm hab ich nie richtig durchgeblickt und am Ende reichten
die Beweise nicht für eine Festnahme.«
»Was haben Mike und seine Schwester gedacht?«
Sara zuckte die Achseln und presste die Lippen zusammen.
»Nichts, soweit ich weiÃ. Sie waren noch jung, es gab keinen
Grund, sie da reinzuziehen, zumal die Nachforschungen über
den Exmann nichts ergaben. Ich habe sie kurz befragt, aber sie
hatten keine Ahnung, dass mein Verdacht in diese Richtung
ging.« Sie schaute Violet an. »Aber ich hätte gern Gewissheit.«
Jetzt hatte sie wieder das unheimliche Gefühl, dass Sara
Priest irgendetwas über sie wissen wollte, und Violet spürte,
wie sie sich zurückzog. Sie war dazu nicht bereit. Jedenfalls jetzt
noch nicht.
Offenbar kam das bei Sara an, denn sie wechselte schnell das
Thema. »Wie gesagt, manchmal erhalte ich bei meiner Arbeit
Hinweise aus der Bevölkerung. Die meisten bringen nichts;
die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen. Meistens wollen
sie bloà helfen, aber es ist sehr mühsam, allem nachzugehen.
Doch Ihr Hinweis erwies sich als sehr wertvoll.« Sara nickte
Violet zu. »Vielen Dank dafür. Das Nichtwissen ist für die Familien
oft am schwersten zu ertragen. Dank Ihrer Hilfe kann
die Familie des Jungen mit der Geschichte abschlieÃen.«
Violet schwieg.
»Ich weiÃ, dass Sie mir nicht vertrauen, und das ist auch in
Ordnung. Ich habe Ihnen bisher keinen Grund dafür gegeben,
mir zu vertrauen, und das tut mir aufrichtig leid. Aber ich hatte
gute Gründe, Sie ausfindig zu machen und das Gespräch mit
Ihnen zu suchen.« Wieder beugte sie sich vor; mit Adleraugen
sah sie Violet an.
»Ich arbeite mit bestimmten Menschen zusammen, Violet.
Menschen mit besonderen Talenten, könnte man sagen. Unkonventionelle
Begabungen, die einige als befremdlich betrachten
würden. Ein paar meiner Kollegen halten es für ausgemachten
Blödsinn, aber ich habe erlebt, dass es funktioniert.
Ich hab die Leute in Aktion gesehen.« Sie wartete einen Augenblick,
ehe sie fortfuhr. »Ich könnte es verstehen, wenn jemand,
der die Welt mit anderen Augen betrachtet, das für sich
behalten möchte, aus welchen Gründen auch immer.«
Sie wurden vom leisen Klicken der Tür unterbrochen und
Violet war dankbar für die Störung. Sie hatte die Fäuste im
Schoà geballt, ihre Hände waren verschwitzt.
Sie wusste nicht, warum sie überrascht war, als sie sah, wer
an der Tür war.
Rafe steckte den Kopf herein und sagte leise: »Wir wären
dann soweit.« Auf dem Schulgelände hatte Rafe ja schon deplatziert
gewirkt, in die förmliche Welt der FBI-AuÃenstelle
passte er erst recht nicht.
»Einen Moment noch«, sagte Sara. Die beiden wechselten
einen stummen Blick, und Violet hatte den Eindruck, dass sie
sich wortlos verstanden.
Ohne Violet anzuschauen, machte er die Tür wieder zu.
Sara dagegen schaute sie sehr wohl an. »Können Sie mit
dem, was ich gesagt habe, irgendwas anfangen?«
Violet nickte. Sie verstand sehr gut â sowohl das Ausgesprochene
als auch das Unausgesprochene.
Sara hatte Violet zu verstehen gegeben, dass sie von ihren
Fähigkeiten wusste. Sie ahnte, dass Violet den Jungen auf eine
einmalige Art und Weise entdeckt hatte. Oder, nach dem, was
Sara gerade angedeutet hatte, auf fast einmalige Art und Weise.
Doch Violet wollte Saras Worten keine allzu groÃe Bedeutung
beimessen. Sie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrunds
zu stehen, und weigerte sich, den entscheidenden Schritt zu
machen.
»Gut. Können Sie mir einen kleinen Gefallen tun? Es dauert
nicht lange.«
»Okay«, sagte Violet.
Zu Violets Ãberraschung stand Sara auf. Sie ging zur Tür,
und Violet folgte ihr. Nur ungern ging sie hinaus in den Flur,
wo die Echos am stärksten waren. Zum Glück ging es nur wenige
Schritte entfernt in ein Zimmer.
Rafe erwartete sie schon. Kurz traf sie der Blick seiner blauen
Augen, so bohrend, dass sie sich unbehaglich fühlte.
Was lag in seinem Blick? Sorge? Oder nur Neugier? Vielleicht
war sie ein komischer Vogel, der jetzt erforscht wurde.
Violet schaute weg, um sich vor dem Blick zu schützen.
Und dann verzog sich Rafe diskret in die hinterste Ecke
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