Ruf der verlorenen Seelen
Hause
gehen. Sie hatte sich von Sara hinausbegleiten lassen, aber nur
weil sie Angst hatte, allein zwischen den dunklen Lagerhallen
herumzugehen.
Doch auf der Fahrt spürte sie etwas, womit sie nicht gerechnet
hatte. Einerseits quälte es sie, dass sie sich verraten hatte.
Doch andererseits fühlte sie sich, als wäre ihr ein Stein vom
Herzen gefallen.
Bestimmt bildete sie sich das Ganze nur ein. Vielleicht waren
das Anzeichen von geistiger Verwirrung. Ja, so musste es tatsächlich
sein. Sie war verrückt. Das erklärte eigentlich alles.
Echos, tote Katzen und Serienmörder. Das war alles einfach
nur verrückt.
Aber sie wollte ihre Gefühle gar nicht infrage stellen, denn
was es auch war â ihre Offenheit Sara gegenüber oder die Erkenntnis,
dass Megan nicht die Schuldige war, oder die Versöhnung
mit Jay â, es ging ihr besser. Viel besser als vorher, da
Selbstmitleid, Hass und Angst sie gequält hatten.
Sie wollte es nicht weiter hinterfragen. Vielleicht war Wahnsinn
gar nicht das Schlechteste.
AuÃerdem schlief sie in dieser Nacht tief und traumlos, und
am Morgen, als Jay sie zur Schule abholte, fühlte sie sich wieder
lebendig. Und glücklich.
Leider teilte Jay ihre optimistischen Ansichten über den
Wahnsinn nicht.
»Guten Morgen«, sagte Violet fröhlich, als er ohne anzuklopfen
in die Küche kam.
Er schaute sie finster an. »Was soll daran gut sein?«, grummelte
er.
Lachend nahm Violet ihre Schultasche. Es wunderte sie
nicht, dass er immer noch murrte; genauso hatte er gestern ausgesehen,
nachdem er Violets Plan widerstrebend zugestimmt
hatte.
»Doch, es ist ein guter Morgen«, sagte sie, ging zu ihm und
küsste ihn auf die Wange. Sie wollte, dass er sie richtig wahrnahm
und ihr zuhörte.
Er nahm sie sofort wahr. Er umfasste ihre Taille und presste
seine Lippen auf ihre. Das hatte sie nicht im Sinn gehabt, aber
sie war auch nicht abgeneigt. Sie lieà die Schultasche fallen.
Sie hatte seine Lippen so vermisst. Und seine Berührungen.
Sie verlor sich in diesem Kuss und dann in dem nächsten. Sie
wollte so bleiben und ganz mit ihm verschmelzen. Er küsste sie,
bis ihre Lippen rau und geschwollen waren und immer noch
mehr wollten. Ihr Kopf war leicht und ihr Herz war heil.
Doch sie wusste noch, dass sie ihm etwas sagen musste,
etwas Wichtiges.
Kurz darauf fiel es ihr wieder ein.
Sie löste ihre Lippen von seinen und lächelte über Jays enttäuschtes
Gesicht. Sie gab ihm noch ein letztes Küsschen. »Sie
will mir helfen«, verkündete sie zufrieden.
Jay sah benommen aus, dann begriff er. Und schaute wieder
finster drein. »Echt? Was hat sie gesagt?«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist gut gelaufen.
Ich hab ihr alles erzählt und ihr den Zettel gegeben.«
Violet legte den Kopf schief und lächelte. »Sie hat gesagt, sie
kümmert sich darum.«
Sie sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Sie wusste, dass
ihre Entscheidung schwer für ihn war.
Als er nichts darauf antwortete und sich nicht rührte, zog
Violet fragend die Augenbrauen hoch. »Alles gut?«
Jay runzelte die Stirn, als müsste er darüber nachdenken.
Violet hob ihre Schultasche auf und hakte sich bei ihm unter.
»Na komm. Jetzt fahren wir zur Schule, sonst verspäten wir uns
und müssen ins Sekretariat.« Sie drückte ihm aufmunternd den
Arm. »Das wird schon«, flüsterte sie. »Vertrau mir.«
»Oh! Guck mal, Jules, sie haben sich wieder vertragen. Ist das
nicht das SüÃeste, was du je gesehen hast?«, spottete Chelsea
und stellte ihr Tablett auf den Tisch. Sie zwinkerte Violet zu,
als Jay nicht hinschaute.
In dem Moment kam Mike und hielt Chelsea von hinten die
Augen zu. Zum Glück war der Schnäuzer ab, Mike war glatt
rasiert.
»Na, wer bin ich?«, fragte er und Violet grinste. Würde
Chelsea Jay bei solchen Spielchen mit Violet ertappen, würde
sie ihn für seine Einfallslosigkeit verbal kreuzigen. Aber bei
Mike spielte sie einfach mit.
»Keine Ahnung, aber lass dich nicht von meinem Freund
erwischen«, säuselte sie.
Ehe Mike sich gesetzt hatte, küssten sie sich schon. Ihre heftige
Knutscherei war fast etwas peinlich.
Aber das war nicht der Grund dafür, dass Violet sich unbehaglich
fühlte.
Sie stellte sich vor, Mike wüsste, was sie über seine Schwester
gesagt hatte.
Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass er es ja
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