Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
betreten hatte, aber nach der Gewittershow auf den Burgzinnen mehr denn je. Sie hielt stur daran fest. Meine Wandlung hatte sie als mein Schicksal angenommen. Meine Lehrzeit bei Lucien aber, war ihr ein Dorn im Auge. Die Antipathie der beiden beruhte also auf Gegenseitigkeit. Meine Melancholie war verflogen, doch zwischen dem Lord und mir hatte es einen Knacks gegeben, das wussten wir beide. Ich wollte nicht mehr ständig unter seinem Einfluss stehen. Darum verließ ich immer häufiger die Isle of Dark und ging ohne ihn auf Erkundungstour.
Meine Bewunderung und mein Respekt hatten Bestand. Doch meine Furcht vor ihm war größer. Ich strebte nicht danach, so zu werden wie er. Kalt, gefühllos und über alles erhaben. Sicher hätte es die Dinge einfacher gemacht. Mein Fluch, dass ich so an meiner menschlichen Seele hing.
Osira wäre es lieber gewesen, wenn ich endlich wieder nach London zurückkehrte und Lucien und die Isle of Dark gänzlich hinter mir ließ. Doch das konnte ich einfach nicht. Ich brachte nicht die Kraft auf, mich von ihm abzuwenden.
Schließlich nahm ich draußen auf der Terrasse eines Cafés Platz und bestellte einen Cappuccino. Ich wärmte meine Hände daran, trank aber nur wenige Schlucke. Dabei beobachtete ich die Leute. Ein junges Liebespaar, erst seit ein paar Tagen zusammen, obwohl sie sich schon seit über einem Jahr kannten. Ich las es in ihren Gedanken. Ihre Liebe war echt, seine nicht. Obwohl er selbst davon überzeugt war, dass er sie liebte. Doch das würde sich bald ändern. Armes Mädchen.
Vier ältere Damen saßen an einem kleinen Tisch zusammen und spielten Bridge. Das taten sie jeden Freitag. Bis vor ein paar Wochen waren sie noch zu fünft gewesen, doch Claire war an einem Schlaganfall gestorben. Die Freundin fehlte ihnen sehr und sie hielten jetzt jedes Mal eine Gedenkminute für sie ab, bevor sie spielten. Es stand noch immer der fünfte Stuhl am Tisch, genau an dem Platz, an dem Claire immer gesessen hatte. Ja, sie war bei ihnen, kam jeden Freitag und setzte sich dazu, auch wenn sie sie nicht sehen konnten. Ich sah sie. Eine schemenhafte Gestalt, die ihren Freundinnen lächelnd zusah. So glücklich darüber, dass sie ihr Andenken bewahrten und sie nicht einfach vergaßen. Sie wusste, dass sie tot war. Aber sie mochte noch nicht in den Himmel gehen. Eine kleine Weile wollte sie noch freitags zum Bridge kommen und ihren Freundinnen zusehen. Annabell, die wie immer kein Glück hatte, es aber stets mit Humor nahm. Cindy, die immer noch schummelte. Sie hatte es ja die ganzen Jahre gewusst. Sie alle hatten es gewusst, aber es ging doch nur um den Spaß und ums Zusammensein. Und Cindy hatte ihre Mogeleien ja auch immer mit netten kleinen Geschenken wieder ausgeglichen. Constanze, die vor der Monotonie zuhause floh. Sie war die Frau eines Industriellen. Reich, aber ebenso gefangen. Dinnerpartys und Galas, Geschäftsessen und Gäste, das Personal zuhause. Immer schick gekleidet, immer perfekt geschminkt. Nur nicht die guten Manieren vergessen. Sie genoss es, jeden Freitag unter ‚normalen Menschen’ zu sein, wie sie den Freundinnen immer wieder sagte. In bequemer Kleidung, ungeschminkt, mit offenen Haaren und reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Mehr Freiheit konnte sie sich nicht nehmen, aber die war ihr umso kostbarer. Und dann noch Barbara, die am meisten trauerte. Sie hatte sie gefunden. Die beiden waren wie Schwestern gewesen und fast jeden Tag zusammen spazieren gegangen. Ihre Männer waren in Vietnam gefallen und die Kinder längst aus dem Haus. Jetzt fühlte sie sich allein. Und sie wusste, sie würde ihrer Freundin bald folgen. Sie hatte Krebs. Unheilbar hatte ihr Arzt gesagt. Aber sie erzählte niemandem davon. Doch Claire wusste es jetzt. Deshalb war sie noch hier. Weil sie Barbara erwartete. Wenn es in ein paar Monaten soweit war, würde sie ihrer Freundin die Hand halten. Sie würden gemeinsam in dieses wunderschöne Himmelreich gehen.
Ich lächelte Claire zu und sie lächelte zurück. Sie wusste, was ich war. Sah, was ein Mensch niemals gesehen hätte. Doch ich war keine Bedrohung für ihre Freundinnen. Und außerdem hatte sie nun ein ganz anderes Verständnis für diese Dinge, als zu Lebzeiten. Sie grollte mir nicht, machte mir keine Vorwürfe, sondern verstand.
Ich überlegte, was ich heute Nacht noch unternehmen könnte, als mir plötzlich eine Frau auffiel, die sich das Schaufenster neben dem Café genauer ansah. Ein Juweliergeschäft. Dabei wirkte sie
Weitere Kostenlose Bücher