Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
sich in den letzten Monaten nichts geändert. Die Aktion erfolgte also völlig grundlos und nicht nachvollziehbar. „Wer leitet Gorlem Manor jetzt?“
„Wie es das Protokoll erfordert, hat Maurice meine Pflichten vorübergehend übernommen. Bis darüber entschieden wird, ob ich dauerhaft als Vater des Ordens abgesetzt oder auf längere Sicht meinen Aufgaben wieder gerecht werde. Erst dann kann im Zweifelsfall jemand anderer bestimmt werden.“
Es klopfte erneut. Diesmal war es Alwynn. Er und mein Vater begegneten sich zum ersten Mal. Neugier auf beiden Seiten. Das Zusammenleben zwischen Menschen und PSIs hätte so einfach sein können.
„Raphael ist zurück. Er will dich sehen. Wir haben einen sicheren Treffpunkt ausgewählt.“
Wir griffen nach unseren Jacken, um uns sofort auf den Weg zu machen, als es zum dritten Mal klopfte.
„Das ist ja wie im Stundenhotel“, meinte Osira und lief neben mir zur Tür.
Als ich öffnete, tat sich gleichzeitig unter mir ein Loch auf, durch das ich ins Bodenlose fiel. Draußen stand Blue, aber statt mir die Frage zu stellen, wieso er das Klopfzeichen kannte, klebte mein Blick an dem Mann neben ihm. Ein Börsenmakler, dem ich vor rund anderthalb Jahren in einem kleinen Lokal in Miami gegenübergesessen hatte.
„Wir dachten, wir setzen auf den Wiedererkennungswert. Seine eigene Visage sieht nicht mehr besonders prickelnd aus.“
Blue schob den Mann an mir vorbei hinein, blickte sich interessiert um, weil alles in Aufbruchsstimmung war. Ich hörte, wie Armand etwas von ‚ganz schlechtem Timing’ sagte, aber der Bezug zur Wirklichkeit war mir flöten gegangen. Es hätte ebenso gut ein Traum sein können.
„Wir können nicht mit so vielen Leuten zum Treffpunkt“, merkte Alwynn an. „Viel zu auffällig.“
„Treffpunkt?“, fragte Blue interessiert.
Ich schüttelte den Kopf, ohne es richtig zu merken, aber Armand sah mich sowieso nicht an. Er blickte von Blue zu Alwynn und stellte die Frage, die mich vollends ins Nichts riss.
„Kannst du Raphael und seinen Begleiter herbringen? Das ist vielleicht einfacher und die Wohnung ist sicher.“
Es drängte mich, zu protestieren, loszuschreien, diesem Börsenmakler an die Kehle zu springen und Blue gleich mit, weil er ihn herbrachte. In unser Versteck. Doch ich blieb in meiner kleinen Welt stehen und sah wie durch eine Nebelwand, die mich von der Realität der anderen trennte, wie Alwynn nach kurzem Zögern nickte und wiederverschwand. Armand kam auf mich zu. Ich rechnete damit, dass er durch mich hindurchgehen würde, weil ich nicht wirklich da war, doch er lächelte mich an und berührte sacht meine Schulter.
„Mel?“
Hoffentlich hatte Serena nicht Cyron gemeint in ihrer Prophezeiung. Ich würde diesem Kerl niemals vertrauen. Er sollte aus meiner Wohnung verschwinden und zwar sofort. Warum ließ Armand ihn hierbleiben? Nahm in Kauf, dass er über unsere Pläne Bescheid wusste? Er würde uns verraten – an Rybing, an irgendwelche Subjekte im PU wie Sylion, an Kaliste.
„Schaff ihn hier raus“, sagte ich schließlich und war nicht sicher, ob man mich hörte, so leise erschien mir meine Stimme. Oder lag es an meinem Herzschlag, der laut trommelte? Am Rauschen des Blutes in meinen Ohren? Mein Blick brannte sich auf dem Gestaltwandler fest, ich machte einen Schritt auf ihn zu und Blue schob Cyron sofort hinter sich und streckte mir den Arm entgegen. Diese Geste verlieh mir erst das Bewusstsein, dass ich die pure Mordlust in den Augen stehen haben musste; zu meinen Gefühlen hatte ich in dieser Sekunde keinen Kontakt.
Cyron lugte über Blues Schulter, vertraute darauf, dass mich der Sangui davon abhielt, ihn in Fetzen zu reißen.
„Melissa, ich hab ihn unter Kontrolle. Und er könnte wichtig werden, bei dem was du vorhast.“
Nicht Blues Worte, sondern das erneute Klopfen an der Tür löste den Bann, der mich kurzzeitig erfasst und nur eins in meinem Kopf zugelassen hatte: Wenn Cyron nicht in zwei Sekunden hier draußen ist, ist er tot!
„Wir sollten eine Drehtür in Erwägung ziehen“, meinte Osira spitz und sprang auf die Klinke.
„Lucien!“
Damit hatte selbst Armand nicht gerechnet. Ich fühlte, wie die Atmosphäre im Raum dichter wurde, die Luft knisterte. Lucien musterte jeden, am intensivsten meinen Vater und Blue. Franklin brach Schweiß aus, er zog sich einige Schritte zurück, was den Lord schmunzeln ließ. Sein Herz raste, ich fragte mich, ob es allein Angst war, oder nicht auch ein Stück weit
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