Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
Schmerz.
„Ich habe dir doch gesagt, ich entscheide, wann du stirbst“, flüsterte er und seine Heiserkeit mochte mehr von Tränen denn von Wut rühren.
Als Dracons Fänge sich in die Kehle unseres dunklen Sohnes gruben, erstarb jegliche Gegenwehr. Ich hörte Warrens Stimme in meinem Kopf, während sein Blick sich in meinen Augen festbrannte.
Du hast es geschworen. Und wieder lässt du mich im Stich
.
Ich hatte ihm geschworen, wenn der Wahnsinn käme, würde ich ihn erlösen.
Ich wusste, ich hätte Dracon aufhalten und es selbst zu Ende bringen sollen. Um ihrer beider Seelenheil willen. Doch ich war immer noch paralysiert, konnte nur zusehen, wie das Leben in den stahlblauen Tiefen erlosch, und warten, bis die Trommel seines Herzschlags, die in meinen Ohren dröhnte, verstummte.
Dann war es vorbei.
Dracon ließ den leblosen Körper fallen und sah mich zum ersten Mal seit seinem Auftauchen an. Mit dem Handrücken wischte er das Blut von seinen Lippen. Sein Blick war unergründlich. Langsam kam er auf mich zu. Mit jedem Schritt, den er sich näherte, fing ich stärker an zu zittern, bröckelte der Damm, der meine Tränen zurückgehalten hatte. Schließlich taumelte ich in die Arme, die er mir entgegenstreckte. Sie umfingen mich sanft, im krassen Widerspruch zu der Unerbittlichkeit, mit der sie Warren in seinen unvermeidlichen Tod gezwungen hatten. Für mich hielten sie Geborgenheit bereit. Eine starke Brust, an die ich mich lehnen konnte, um den Schock abklingen zu lassen.
„Ich kann es nicht“, flüsterte ich. „Ich werde versagen, das weiß ich.“
„Scht! Das wirst du nicht. Sag nicht so was.“
„Doch“, schluchzte ich. „Jedes Mal, wenn ich handeln sollte, stehe ich nur wie gelähmt daneben und jemand anderes muss das erledigen, was meine Aufgabe wäre. So wird es auch bei Kaliste sein. Ich bin nicht stark genug. Ich werde scheitern.“
Diese Angst zerfraß mich seit Tagen und das eben Erlebte bestätigte sie. Wenn ich nicht einmal gegen Warren bestand, wie sollte ich Kaliste die Stirn bieten? Tizian irrte sich – Lucien irrte sich – alle irrten sich. Ich konnte nicht die Schicksalskriegerin sein. Mein Herz war zu schwach.
Dracon zog mich zu den Sitzreihen und nahm mit mir Platz. Er hielt mich lange schweigend im Arm, Worte wären sinnlos gewesen. Es genügte, dass er da war. Wieder einmal, wenn ich ihn brauchte. Ohne Forderung stand er mir stets zur Seite, duldete, dass ich mich für einen anderen entschieden hatte, und gab mich doch nie auf. War das nicht wahre Liebe? Er hatte sein Leben riskiert, um Lucien zu befreien, obwohl der ihn verstoßen und ihm mit dem Tod gedroht hatte. Zeugte das nicht von Größe? Das schwarze Schaf unserer Familie besaß vermutlich den besten Charakter von uns allen. Dracon war bar jeder Intrige und Lüge, immer ehrlich und direkt, auch wenn er aneckte oder nicht gefiel. Was warf ich ihm vor? Dass er seinen Gefühlen nachgab? Bereit war, Risiken einzugehen? Es genoss, ein Kind der Nacht zu sein? Er verstellte sich nie. Sein Verbrechen war, nicht zu heucheln, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sogar vor Kaliste hatte er sich nicht gefürchtet, sich nicht kaufen lassen, indem sie ihm das Leben rettete und ihn und mich aneinanderband, weil sie glaubte, ihm damit sein Begehren zu erfüllen. Er war zu Raphael übergelaufen, statt sich von ihr blenden zu lassen. Ich konnte ihn nur bewundern.
„Besser?“, fragte er nach einer Weile, als mein Schluchzen weniger wurde.
Ich nickte. „Es tut mir leid.“
„Warum? Du hast nichts getan.“
„Wegen Warren. Dass du ihn verloren hast. Wegen mir.“
Er lachte leise und schüttelte den Kopf, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und stand auf. Ich dachte, er würde zu Warrens Leiche gehen, aber erst einmal tauchte er zwischen den Sitzen ab und holte die Waffe hervor, um sie neben mich auf den leeren Platz zu legen. Erst dann kümmerte er sich um seinen toten Sohn. Die Liebe in seinen Augen, als er ihm über die Wange strich und ihm die Augen schloss, setzte einen weiteren Hieb auf mein Gewissen. Über Dracons Gesicht huschten Bedauern, Schmerz und Verlust gleich Fledermäusen und verschwanden im Dunkel des Kinosaales.
„Es war seine Entscheidung“, sagte er und erhob sich. „Außerdem hatte ich eh schon daran gedacht. Ich wäre ihn bald leid gewesen. Mich vor die Wahl zu stellen, du oder er, hat es nur beschleunigt.“
„Warum … hast du dich für mich entschieden? Ich meine … er war dein Gefährte,
Weitere Kostenlose Bücher