Ruf Des Dschungels
Verpflichtungen mehr, kein Schmerz, keine Angst, dass meine Familie sich gegen mich wenden könnte, keine Beziehungen, die wegen meiner inneren Unruhe in die Brüche gehen.
Dann kommen mir all die papuanischen Kinder in den Sinn, die mit ansehen mussten, wie Familienangehörige gefoltert oder getötet wurden, kleine Jungen und Mädchen, die jegliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben haben. Was ist mit ihnen?
Meine Gedanken wandern zu Jon. Er zählt zu den wenigen Glücklichen, die einen Schulabschluss machen konnten, und doch hat er inzwischen sein bürgerliches Leben aufgegeben und lebt nur für ein einziges Ziel. Unsere Beziehung ist seltsam, denn wir sind durch dasselbe Schicksal aneinander gebunden. In unserer Verzweiflung klammern wir uns aneinander wie zwei Menschen, die in einen Sturm geraten sind. Alles, was wir fühlen und tun, wird genährt von unserer Leidenschaft für dieses Land, das wir beide als unsere Heimat bezeichnen. Nähme man uns dies, so wären wir uns fremd.
Ich sehne mich so sehr nach Ruhe und Frieden. Ich könnte jederzeit zurück nach West-Papua, um dort zu leben. Doch wenn ich dort wäre – ich könnte morgens nicht in den Spiegel blicken in dem Wissen, dass diejenigen, die ich mein Volk nenne, wie Gefangene im eigenen Land leben. Und ich dürfte nicht darüber sprechen. Als Ausländer in West-Papua hat man nur zwei Möglichkeiten: Entweder man spricht über das, was man weiß, und wird unverzüglich des Landes verwiesen. So ist es allen passiert, die das getan haben. Oder man schweigt und hilft den Menschen im Verborgenen.
Ich muss stark sein, muss irgendwie durchhalten und den eingeschlagenen Weg weitergehen. Denn langsam wird mir bewusst, das das Schicksal dieses Landes und seines Volkes untrennbar mit dem meinen verknüpft ist.
Die Augen fallen mir zu, und während die Gedanken mir noch durch den Kopf wirbeln, schlafe ich ein.
Ich wache auf, der Regen prasselt aufs Dach. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und beobachte, wie die Regentropfen kleine Bäche auf der Scheibe bilden. Der graue Himmel entspricht meinem Gemütszustand.
»Sabine, pack deine Koffer. Wir müssen los.«
»Wo gehen wir hin?«
»Zu unserem nächsten Ziel. Wir müssen was erledigen«, erklärt Jon.
Wenige Stunden später erreichen wir unseren Bestimmungsort und machen uns auf den Weg zu einem Treffen mit einigen papuanischen Studenten, die sich gegen Ende der Woche mit zahlreichen anderen aus dem ganzen Land zu Demonstrationen in Jakarta treffen wollen.
Mit dem Taxi fahren wir durch die von Smog vernebelten Straßen und schmuddelige Stadtteile. Im Straßengraben sitzen bettelnde Menschen. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist in diesem Land nach wie vor enorm. Weiter geht es zum Stadtrand, zu einem Vorort mit engen Straßen und farbenfrohen Häusern, die sich dicht an dicht aneinander reihen. Während wir die enge Allee entlanglaufen, spüre ich die vielen misstrauischen Blicke, die auf uns ruhen. Ich vermute, dass sich nicht viele Weiße in diesen Teil der Stadt verirren.
Jon sagt mir, ich solle einfach weitergehen und Augenkontakt vermeiden, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Bei seiner Bemerkung muss ich lächeln, denn wirklich jeder, an dem wir vorbeikommen, unterbricht seine Tätigkeit, um das seltsame Paar zu betrachten, das gerade vorbeiläuft: eine fremde Weiße und ein einheimischer Schwarzer.
Wir bemerken eine junge Frau, die am Rand der engen Straße steht. Sie trägt einen Hut in den Farben von West-Papua, ein Erkennungszeichen der Studentenbewegung. Sie bedeutet Jon mit einer raschen Geste, ihr zu folgen. Mit ein paar Schritten Abstand gehen wir hinter ihr her, und sie führt uns zu einem niedrigen, weiß getünchten Haus.
Eine hohe Zementmauer umgibt den Innenhof. Wir werden von einer Gruppe papuanischer Studenten begrüßt. Ein Gefühl der Freude steigt in mir hoch beim Anblick der vertrauten Züge, die so einzigartig und charakteristisch für die Melanesier sind. Alle schütteln mir zur Begrüßung freundlich die Hand. Diese Eigenschaft habe ich an den Papua immer schon gemocht: Selbst unangemeldete Gäste werden stets herzlich empfangen.
Im Hof ziehen wir die Schuhe aus und werden in einen kleinen Raum geführt, der mit einem dünnen blauen Teppich ausgelegt ist. Immer mehr Wartende strömen herein, und das Zimmer ist bald so überfüllt, das sich diejenigen, die nicht mehr hineinpassen, im Eingang oder vor dem Fenster versammeln, das auf
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