Ruf Des Dschungels
den Hof hinausgeht.
Ich setze mich auf den Boden und beobachte die Studenten um mich herum. Die meisten Gesichter sind von Traurigkeit und Angst gezeichnet. Schließlich ergreift ein junger Mann das Wort, doch er redet mit so leiser Stimme, dass ich ihn kaum verstehen kann. Seine feinen Gesichtszüge und das schulterlange, lockige Haar, das er mit einem Band zusammengehalten hat, gefallen mir auf Anhieb.
Er spricht ein paar Worte zur Begrüßung und dankt uns, dass wir den langen Weg auf uns genommen haben, um sie zu treffen. Ein zustimmendes Murmeln geht durch den Raum. Dann stellen sich die Studenten einer nach dem anderen kurz mit ihrem Namen und dem jeweiligen Stammesnamen vor. Ihre Stimmen klingen sanft, als fürchteten sie sich davor, gehört zu werden. Schließlich ist Jon an der Reihe.
Da es mit meinem Indonesisch nicht zum Besten steht, bekomme ich nicht alles mit, was er sagt. Für einzelne Wörter und Satzfetzen reicht es trotzdem. Er zählt die politischen Erfolge auf, die die Unabhängigkeitsbewegung in den letzten paar Monaten errungen hat. Dann legt er den Studenten seine Pläne für die kommenden Wochen dar. Er spricht insgesamt etwa zwei Stunden, und der kleine Raum heizt sich zunehmend auf, da die Sonne die ganze Zeit auf das Häuschen niederbrennt. Doch selbst in dieser unerträglichen Hitze ruhen die Augen aller Anwesenden wie gebannt auf Jon, dem Berichterstatter von draußen. Denn dank seiner Bemühungen und seines Kommunikationsnetzwerks sind sie über alles Wichtige informiert.
Nachdem Jon geendet hat, stellen die Studenten ihm noch Fragen. Aufregung macht sich breit, als es um die Pläne für die anstehende Demonstration geht. Es ist deutlich zu spüren, dass unser Kommen und Jons Rede den Studenten wieder Hoffnung gemacht haben. Denn viele haben schon daran gezweifelt, dass ihre Stimmen gehört würden, und in den letzten Monaten ist die zuversichtliche Stimmung allmählich gekippt. Die indonesische Propagandamaschinerie hat sich nach den gewalttätigen Demonstrationen in West-Papua gegen das einheimische Volk gewandt.
Jemand verteilt eine Liste mit den Namen derjenigen, die mit nach Jakarta fahren wollen. Stille breitet sich im Raum aus. Schließlich steht der Anführer der Studenten auf und dankt allen Anwesenden noch einmal für ihr Kommen. Er bestätigt uns, dass wir ihnen neue Hoffnung gegeben haben, diesen Kampf für ihre Familien und Freunde in der Heimat fortzuführen. Alle klatschen leise zum Zeichen ihres Dankes.
»… Jon?«, flüstere ich.
»Was gibt’s?«
»Ich würde gerne etwas fragen.«
»Hat das nicht Zeit bis später?«
»Nein, ich habe eine Frage an die Studenten.«
»Okay. Was möchtest du von ihnen wissen?«
»Könnten vielleicht all diejenigen die Hand heben, die einen Familienangehörigen oder Freund durch Mord oder Folter verloren haben?«
»Wie bitte?«
»Bitte übersetze ihnen einfach meine Frage.«
Jon übersetzt, und es wird still im Raum. Erwartungsvoll sehe ich mich um. Zögerlich hebt jemand die Hand, dann noch jemand, dann ein Dritter, bis schließlich alle Hände in der Luft sind. Nicht eine einzige Hand im ganzen Raum bleibt unten. Der Schmerz steht allen deutlich ins Gesicht geschrieben, und ich sehe ihnen die Trauer an, die tief in ihren Herzen liegt. Ich stehe auf und bedanke mich in ihrer Sprache.
Danach gehen alle nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Auf einmal zieht ein Student die verbotene Papua-Flagge hervor, die auf ein großes Stück Papier gemalt ist. Innerhalb von Sekunden füllt sich der Hof mit zahlreichen Papua, die alle mit auf mein Gruppenfoto möchten. Ich bin zutiefst erstaunt, wie sich ihre Mienen unvermittelt aufhellen, wie sie anfangen zu lächeln und die Stimmung sich augenblicklich ändert. Die Luft knistert vor Aufregung, ein Gefühl von Einigkeit und Stärke durchbricht die Düsternis, die eben noch die Veranstaltung dominiert hat. Ich trete einen Schritt zurück, damit möglichst alle aus der Gruppe, in deren Mitte Jon steht und die gemalte Flagge hochhält, aufs Bild kommen. Er ruft mir zu, ich solle mich beeilen, denn die Gefahr ist zu groß, dass uns jemand mit der verbotenen Flagge sieht. Schnell mache ich ein paar Fotos, und schon ist die Flagge wieder verschwunden.
Eine halbe Stunde später sind wir auf dem Weg in unser Hotel. Jon ist voller Elan, das Treffen hat ihn regelrecht aufgeputscht. Er sagt, dass es an der Zeit ist, unsere Reise nach West-Papua vorzubereiten.
Unsere Reise muss mit viel
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