Ruf Des Dschungels
an. Es ist höchste Zeit für uns, diesen Ort zu verlassen.
Der Fremde versucht weiter, den Studenten in ein Gespräch zu verwickeln. Zwischendurch wirft er Seitenblicke auf Jon und mich, dann späht er nach draußen, als würde er jemanden erwarten. Als plötzlich das Quietschen von Reifen zu hören ist, dreht der Mann sich um. Jon und ich springen blitzschnell auf und stürmen zur Hintertür, während die Studenten an dem Fremden vorbei durch die Vordertür davonrennen.
Wir reißen die Tür auf und stehen in einem kleinen Hof. Hastig klettern wir über ein paar Mülltonnen und erklimmen eine niedrige Steinmauer. Dann rennen wir los, immer auf die Hauptstraße zu. Ich merke, wie mein Herz heftig gegen meine Rippen klopft, höre meinen schweren Atem und das klappernde Geräusch unserer Schritte, während das Adrenalin mir durch den Körper schießt.
Endlich erreichen wir die Hauptstraße, Jon winkt ein Taxi herbei, und wir springen hinein. Sekunden später hat uns das abendliche Verkehrschaos verschluckt.
Ich zittere noch immer am ganzen Körper, wie ich da stumm im Taxi sitze. Auf einmal muss ich an Jons Freund denken, der kürzlich angerufen hat, um uns zu warnen, wir sollten extrem vorsichtig und ständig auf der Hut sein. Er hatte gehört, dass Jon auf der roten Liste stehe, die Polizei also nach ihm fahnde. Jon ist bereits seit einigen Jahren für die Unabhängigkeitsbewegung aktiv, und frühere Fälle haben gezeigt, dass alle in die Bewegung verwickelten Personen verfolgt und irgendwann entweder des Landes verwiesen oder verhaftet werden.
Was werden sie mit uns machen, wenn sie uns erwischen?,
schießt es mir durch den Kopf. Immerhin sind wir aktiv auf der Suche nach Zeugen von Menschenrechtsverletzungen, und diese Suche bringt uns immer weiter ins Zentrum der Unabhängigkeitsbewegung hinein. Eine Bewegung, die von der indonesischen Regierung des Hochverrats bezichtigt wird.
Als wir unser Hotel erreichen, beschließe ich, mich früh hinzulegen. Der morgige Tag wird sicher sehr anstrengend. Von meinem Bett aus kann ich hören, dass Jon bis spät in die Nacht telefoniert. Irgendwann falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen erfahren wir, dass in Jakarta Massendemonstrationen stattfinden. Tausende Indonesier haben sich versammelt, um für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen. Ich mache mir Sorgen, ob es zu Zusammenstößen zwischen unseren Studenten und den anderen Demonstranten kommen könnte.
In den letzten Wochen haben die Medien wiederholt Szenen gezeigt, in denen Studenten in der Hauptstadt von West-Papua mehrere Polizisten zu Tode geprügelt haben. Wie erwartet, haben die örtlichen Fernsehsender kein Wort darüber verloren, was die Ursache für die Gewaltausschreitungen und die schrecklichen Folgen war.
Eine seltsame Unruhe beschleicht mich, innerlich schrillen alle Alarmglocken. Ob das von unserer überstürzten Flucht vergangene Nacht herrührt, kann ich nicht sagen, doch während meiner Kindheit im Urwald habe ich gelernt, auf meine Instinkte zu hören.
Eine Stunde später checken wir deshalb aus und nehmen ein Taxi ins Stadtzentrum, wo wir bald eine günstige Unterkunft finden. Was für ein Unterschied zu dem Luxushotel, das wir gerade erst verlassen haben. Das Zimmer ist winzig und düster, und es gibt nur ein Fenster zum Innenhof – aber immerhin wird uns hier ganz bestimmt niemand suchen.
Der Beginn der Demonstrationen rückt immer näher. Wir fahren zu dem Ort, von dem aus der Marsch starten soll. Um möglichst wenig ins Rampenlicht zu geraten, beschließe ich, die Ereignisse aus der Ferne zu betrachten. Ich trage Jeans, ein dunkelblaues Shirt mit langen Ärmeln und einen Hut, um mein Gesicht zu verdecken, und hoffe, dass ich so nicht allzu sehr aus der Menge heraussteche.
Die Straßen sind voller Menschen, die Transparente tragen, andere haben bunte Logos auf ihren T-Shirts und Mützen, und an zahlreichen Motorrädern sind Plakate befestigt. Später habe ich gelesen, dass an jenem Tag insgesamt 70 000 Menschen demonstriert haben. Ganze Hundertschaften an Polizei sind präsent, Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln säumen die Straßen, die Luft vibriert förmlich vor Spannung.
Auch ich werde immer aufgeregter, als ich mich durch die überfüllten Seitenstraßen zwänge. Bald finde ich die kleine Studentengruppe aus West-Papua, die sich bereits unter roten Transparenten und Fahnen versammelt hat. Sie haben einen Wagen mit offener Ladefläche
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