Ruhe Sanft
dann wurde sie trotz ihrer Größe im Nu von der Menge geschluckt.
Wetzon zögerte am Drehkreuz. Sie hatte keine Marke.
Jemand stieß sie an. »Machen Sie Platz, Sie, vorwärts«, fuhr ein Mann in teurem Tweedmantel sie an.
Verflixt. Sie wich vom Drehkreuz zurück und sah den Mann im Trenchcoat am Fuß der Treppe stehen, die zum Pendelzug führte. Sei riß die lavendelfarbene Baskenmütze vom Kopf und stopfte sie in die Einkaufstasche, dann ließ sie sich von der Menschenmenge durch den Tunnel, durch den sie gekommen war und in dem Diantha verschwunden war, zurücktreiben. Sie wagte nicht, jemanden anzusehen, besonders keine Männer im Trenchcoat.
Ihr fiel ein, daß sie einige Scheine und Kleingeld von dem Fünfer, den sie Judy Blue gegeben hatte, in der Manteltasche haben mußte, also reihte sie sich zapplig vor Nervosität in die Schlange am Schalter ein. Vielleicht sollte sie die Nadeln aus dem Haar ziehen. Bestimmt hatten sie sie in dem Waschbärmantel schon entdeckt... Sie streifte den linken Handschuh ab, zog die Nadeln aus dem Haar, schüttelte den Kopf hin und her, damit das Haar locker um das Band zu einem Pferdeschwanz fiel. Sie steckte die Haarnadeln zu dem übrigen Kleingeld in die Tasche.
Als sie zwei Dollarscheine unter dem Fenstergitter durchschob, hörte sie einen Mann rufen: »Dort ist sie!« Sie schnappte die zwei Marken, duckte sich erschrocken, war bereit loszulaufen. Jeden Moment würde sich jemand auf sie stürzen. Die Leute drängten sich um sie, doch sie merkte fast sofort, daß sie nicht nach ihr schauten; sie beobachtete einen Mann in gelbbraunem Trenchcoat, der sich einen Weg durch das Menschenmeer bahnte und eine Frau mit einer purpurroten Baskenmütze und einem Waschbärmantel verfolgte.
Das war der Auslöser. Jetzt zögerte sie nicht mehr. Sie ging durch den Tunnel zurück durch das anhaltende Stoßzeitgewühl, mischte sich in die Gruppe, die zum Pendler ging, drängte sich mit dem gleichen Eifer vor wie alle andern und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als der Pendelzug aus dem Grand Central ruckelte und wenig später in die Station Times Square einfuhr. Keine Männer in Trenchcoats mehr zu sehen.
Sie machte einen Bogen um eine Jazzcombo. Zerfetzte Zeitungen, halb gegessene Hot dogs, Pizzastücke, zusammengedrückte Coladosen, Bonbonpapierchen lagen überall in den Durchgängen. Die Leute ließen die Sachen fallen, wo sie standen, ohne sich nach einem Abfallkorb umzusehen, und wenn man doch einen Abfallkorb fand, dann war er normalerweise zum Überlaufen voll. Die zerkratzten Wände waren mit Graffiti bedeckt. Die stechende Mischung aus fettigen und süßen Düften kam von dem Stand für Hot dogs und Karamelpopcorn in dem unterirdischen Durchgang zur BMT-Bahn.
Wie war noch die Adresse, die Diantha ihr gegeben hatte? Zum Teufel noch mal. Sie hatte Silvestri gesagt, sie würde nach sieben zu Hause sein. Das war unmöglich zu schaffen. Was würde er denken? Er würde sich wahrscheinlich furchtbar über sie ärgern und denken, sie sei viel zu unzuverlässig, um sich mit ihr abzugeben.
Warte mal einen Moment, dachte sie. Warum machst du dich so klein? Wenn er so dachte, war er es nicht wert, daß man sich mit ihm abgab. »Ja, sag dir das nur immer wieder, altes Mädchen.« Sie hatte laut gesprochen, aber in New York achtete niemand auf Leute, die Selbstgespräche führten, schon gar nicht in der Subway. Sie mußte lachen. Selbst schicke junge Frauen in teuren Waschbärmänteln redeten mit sich selbst.
Ihr Kopf war leer. Sie mußte sich darauf verlassen, daß ihr die Adresse wieder einfiel. East 16. Street, hatte Diantha gesagt. Irgendwo in der East 16. Street.
Sie ließ den Blick über die Menge schweifen, Junge, Alte, in Mänteln, Daunen, Pelz, Leder, zitternd in Baumwolle, mit Hüten, ohne Kopfbedeckungen, glatzköpfig, mit Aktentaschen in der Hand, Zeitungen, Büchern, dunkelhäutig, hellhäutig, Asiaten, Männer, Frauen, in Sportwagen schlafende Kinder, Säuglinge in Tragetaschen. Keine FBI-Typen allerdings, alle zum Verwechseln ähnlich, groß, in gelbbraunem Trenchcoat und mit kurzem gelbbraunem Haar. Sie zitterte, aber nicht, weil ihr kalt war. Was hatten sie von ihr gewollt? Und waren sie wirklich vom FBI?
Als sie die mit Abfall übersäte Steintreppe hinunterging, die zu den BMT-Linien führte, dachte sie weniger daran, wohin sie ging, als vielmehr an die Geschichte, in die sie verwickelt worden war. Sie ging automatisch durch eine Lücke zwischen den
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