Ruhe Sanft
West Side. Aber die Eleganz des benachbarten Gramercy Parks zwei oder drei Straßen weiter nördlich würde sie nie erreichen.
»Sechs neunzehn«, murmelte sie immer wieder vor sich hin, »sechs neunzehn...« Der Wind fegte mit tückischer Schärfe über den leeren Platz. Sie fischte die Baskenmütze aus der Einkaufstasche und zog sie bis über die Augenbrauen.
Das Gebäude war eines von vier fast gleichen Sandsteinhäusern, offenbar vom selben Architekten und vermutlich im späten neunzehnten Jahrhundert erbaut. Vor jedem führten ungefähr zwölf schmale Steinstufen zu einem verzierten schwarzen Eisengitter vor einer schweren Holztür. Die Tür von sechs neunzehn war aus heller Eiche mit einem glänzenden Messingtürschild.
Links neben der Tür befanden sich zwei blitzblank polierte Messingschilder. Auf dem unteren stand >1< Trapunto, auf dem oberen >2< Anderson. Neben jeder Nummer war eine Klingel. Sie öffnete das Gitter und probierte den Griff der Eichentür. Sie war abgeschlossen.
Wie war noch das blöde Zeichen, das Diantha ihr gegeben hatte? Es war so dumm, die ganze Geschichte. Sie fühlte sich wie in einem Abenteuerfilm und in einem ziemlich schlechten dazu.
Zweimal kurz läuten, einmal lang, auf zehn zählen, das gleiche noch mal. Sie machte einen Refrain daraus, als sie leise zählte. »Und eins und zwei, und ein...« Sie tat es. Ein Summer ertönte, also mußte es Diantha unbehelligt nach Hause geschafft haben. Sie drückte die Eichentür auf und befand sich in einem kleinen Vorplatz gegenüber von zwei Türen. Rechts gleich neben ihr gab es einen großen kombinierten Schirm- und Garderobenständer in einem schlichten, derben Stil. Eine helle Messinglaterne hing von der Decke und beleuchtete den Raum. An den Wänden war eine schöne William-Morris-Tapete mit einem Muster aus Bögen in Bögen in Mauve- und Purpurtönen.
An der linken Tür war ein Messingschild »1«, an der rechten Tür »2«.
Sie zog die Eichentür hinter sich zu und hörte auf das Klicken, das anzeigte, daß die Tür verschlossen war. Dann zog sie den Handschuh von der rechten Hand und nahm den Schlüssel heraus.
Plötzlich verunsichert, hielt sie inne. Was zum Teufel hatte sie hier zu suchen? Es war absurd. Dennoch, jetzt war sie hier. Dann konnte sie auch herausbekommen, was Diantha für so dringend gehalten hatte. Sie schloß die Tür auf, die sich nach innen öffnete. Eine Treppe nach oben begann wenige Schritte vor ihr unter einer schwachen Hängelampe, einer Tiffany-Kugel an einer Messingkette.
Wieder schloß sie die Tür hinter sich und lauschte. Stille. Der Boden knarrte irgendwo über ihr wie von einem Schritt.
»Diantha?« Ihre Stimme klang heiser. Sie räusperte sich. Es kam keine einladende Antwort. Also dann. Sie hob den Mantel vorne an und stieg die schmale, steile Treppe hoch. An der rechten Wand hingen Drucke von viktorianischen Frauen in hellen Kleidern. Anscheinend wohnte Diantha in der oberen Hälfte eines Zweifamilienhauses ganz für sich.
Als Wetzon auf der obersten Stufe stand, blieb sie stehen. Da war wieder das knarrende Geräusch und dann ein leises Rascheln. Irgend jemand war hier. »Diantha? Sind Sie da?«
Keine Antwort.
Von etwas angezogen — sie wußte nicht, wovon — , von dem Geräusch vielleicht, vom gedämpften Licht, einem verschwommenen bräunlichen Nebel, trat sie in den großen Raum am oberen Ende der Treppe wie in einen alten Film. An den Fenstern zur Straße waren die Rolläden heruntergelassen. Sie betrachtete die Bilder an den Wänden, den mauve Samtbezug eines altmodischen Sofas, zwei Ohrensessel mit breit und schmal gestreiftem Stoff, die mit den Rückseiten zu ihr vor einem Kamin standen, in dem verlöschende Kohlen aufglühten und knackten. Die Wände hatten einen tieferen mauve-braunen Ton.
Ihr Blick fiel auf ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden neben einem Ohrensessel lag. Ein halbvolles Glas mit einer dunklen Flüssigkeit stand auf dem niedrigen runden Tisch zwischen den zwei Sesseln.
»Ist hier jemand?« fragte sie, verwirrt, ängstlich, nein, nicht ängstlich, sondern allmählich verärgert, weil sie wußte, daß jemand da war.
Eine Gestalt erhob sich von dem einen Sessel und drehte sich nach ihr um. Ein Gespenst.
Sie taumelte zurück, außer Atem, wie von einem ungeheuren Gewicht getroffen. »Nein!« schrie sie.
»Wetzi!« sagte die Gestalt. »Alles in Ordnung. Keine Angst. Ich bin echt.«
Ihre Knie gaben nach, und sie spürte, wie sie nach vorn auf den Boden
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