Ruhelos
möglicherweise überlebt, und sie hätte zumindest fliehen können. Aber dank ihrem Glück – ihrem unglaublichen Glück –, ihrer Zielgenauigkeit und der Schärfe des Bleistifts war er genauso schnell gestorben wie an Blausäure oder auf dem Elektrischen Stuhl. Sie ging früh zu Bett und träumte, dass Raul ihr ein Coupé verkaufen wollte, einen kleinen roten Flitzer.
Genau eine Minute nach vier wählte sie Sylvias Nummer bei der BSC. Sie stand an einem Münztelefon vor dem Rockefeller Center auf der Fifth Avenue, den Eingang der BSC hatte sie von hier gut im Blick. Sylvias Telefon klingelte dreimal.
»Hallo, Eva.« Romers Stimme klang emotionslos, unüberrascht. »Wir möchten, dass du herkommst.«
»Hör mir gut zu«, sagte sie. »Verlass jetzt das Gebäude und geh südwärts die Fifth Avenue hinunter. Ich gebe dir zwei Minuten, andernfalls gibt es kein Treffen.«
Sie legte auf und wartete. Nach etwa dreieinhalb Minuten kam Romer aus dem Haus – gerade noch rechtzeitig, wie sie entschied; in so kurzer Zeit konnte er kein Kommando auf die Beine stellen. Er lief los, und sie beschattete ihn von der anderen Straßenseite, beobachtete, wie er sich verhielt, was sich hinter ihm tat, und ließ ihn etwa sechs Querstraßen weiterlaufen, bis sie sicher war, dass ihm niemand folgte. Sie trug Kopftuch und Brille, flache Schuhe und einen Kamelhaarmantel, den sie am Morgen in einem Billigladen gekauft hatte. An der nächsten Kreuzung überquerte sie die Straße und folgte ihm in dichtem Abstand bis zur nächsten Ecke. Der Trenchcoat, den er mit einem marineblauen Schal trug, war alt und hatte geflickte Stellen. Er war ohne Hut und schien unbekümmert südwärts zu schlendern, ohne nach eventuellen Kontakten Ausschau zu halten. Als sie zur 39th Street kamen, trat sie von hinten an ihn heran und sagte: »Folge mir.«
Sie liefen ostwärts bis zur Park Avenue und nordwärts zurück in Richtung 42nd Street und Grand Central Station und betraten die große Bahnhofshalle durch den Eingang Vanderbilt Avenue. Tausende von Pendlern durchquerten die riesige Halle, hastend, schiebend, drängelnd – zur Rushhour war dies ein geradezu idealer Treffpunkt, hatte sich Eva überlegt. Hier war sie kaum angreifbar, konnte aber leicht Verwirrung stiften und fliehen. Ohne sich umzuschauen, strebte sie dem zentralen Auskunftsschalter zu. Dort angekommen, drehte sie sich um und nahm die Brille ab:
Er war direkt hinter ihr, mit ausdrucksloser Miene.
»Beruhige dich, ich bin allein«, sagte er. »So blöd bin ich nicht.« Er schob sich näher an sie heran und senkte die Stimme. »Eva, wie geht’s dir?«
Zu ihrem gewaltigen Verdruss führte die Anteilnahme in seiner Stimme dazu, dass ihr plötzlich zum Weinen zumute war. Aber sie musste nur an Luis de Baca denken, um wieder hart und unnachgiebig zu werden. Sie nahm das Kopftuch ab und lockerte ihr Haar.
»Ich bin verraten worden«, sagte sie. »Jemand hat mich verraten.«
»Keiner von uns. Ich weiß nicht, was schiefgegangen ist, aber bei Transoceanic gibt es kein Leck.«
»Ich glaube, du irrst dich.«
»Natürlich glaubst du das. Das würde ich auch. Aber ich müsste es wissen, Eva. Ich würde das rauskriegen. Wir haben kein Leck.«
»Und die BSC?«
»Die BSC würde dir einen Orden verleihen, wenn sie könnte«, sagte er. »Dein Einsatz war großartig.«
Das warf sie um. Sie ließ den Blick über die wogende Menschenmenge schweifen, wie um nach einer Eingebung zu suchen, sie blickte zum gewaltigen Deckengewölbe mit dem blauen Sternenhimmel auf; sie fühlte sich schwach. Mit einem Mal spürte sie die Anspannung der letzten Tage in allen Gliedern. Sie wollte nur noch das eine – dass Romer sie in die Arme nahm.
»Gehen wir nach unten«, sagte er. »Hier können wir nicht reden. Ich hab dir eine Menge zu erzählen.«
In der unteren Halle fanden sie einen Platz an einer Milchbar. Sie bestellte einen Kirsch-Milchshake mit einer Kugel Vanilleeis, plötzlich hatte sie Appetit auf Süßes. Während des Wartens schaute sie sich um.
»Keine Sorge«, sagte Romer. »Ich bin allein hier. Du musst ins Büro kommen, Eva. Nicht jetzt, nicht heute oder morgen. Lass dir Zeit. Die hast du dir verdient.« Er griff nach ihrer Hand. »Was du da hingekriegt hast, ist erstaunlich«, sagte er. »Erzähl mir, was passiert ist. Fang an mit deiner Abreise von New York.« Er ließ ihre Hand los.
Also erzählte sie: Sie schilderte die gesamte Reise von New York bis Las Cruces, und Romer hörte zu –
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