Ruhig Blut!
leicht und glänzten in silbrigem Grau.
»Ich habe sie in der Asche gefunden.«
»Niemand hat jemals behauptet, Eierschalen von einem Phönix gefunden zu haben«, sagte Himmelwärts vorwurfsvoll.
»Das wußte ich nicht«, entgegnete Festgreifaah unschuldig. »Sonst hätte ich nicht nach ihnen Ausschau gehalten.«
»Ich frage mich, ob irgendwann einmal jemand anders danach gesucht hat«, murmelte Oma Wetterwachs und stieß die Eierschalen an. »Ah…«, sagte sie.
»Ich dachte, daß die Phönixe vielleicht an einem sehr gefährlichen Ort leben…«, begann Festgreifaah.
»Für neugeborenes Leben ist zunächst jeder Ort gefährlich«, meinte Oma. »Offenbar hast du dir Gedanken gemacht, Festgreifaah.« »Danke, Frau Wetterwachs.«
»Schade, daß du nicht noch etwas gründlicher nachgedacht hast«, fügte
Oma hinzu.
»Wie bitte?«
»Diese Teile hier stammen von mehr als nur einem Ei.«
»Frau Wetterwachs?«
»Festgreifaah«, sagte Oma geduldig, »der Phönix hat mehr als nur ein
Ei gelegt.«
»Was?« entfuhr es Himmelwärts. »Aber das ist unmöglich! Nach der Mythologie…«
»Oh, Mythologie«, sagte Oma. »Mythologie besteht nur aus den Märchen der Leute, die gewonnen haben, weil sie die größeren Schwerter hatten. Und von solchen Leuten kann man natürlich erwarten, daß sie sich mit Ornithologie auskennen. Wie dem auch sei: Wenn nur ein Exemplar existiert, darf die Spezies wohl kaum damit rechnen, lange Bestand zu haben. Bestimmt haben Feuervögel natürliche Feinde, so wie alle anderen Lebensformen auch. Hilf mir hoch, Herr Himmelwärts. Wie viele Vögel befinden sich in deinem Hort, Festgreifaah?«
Der Falkner blickte kurz auf seine Finger.
»Fünfzig.«
»Hast du sie kürzlich gezählt?«
Sie beobachteten ihn, während er von Pfahl zu Pfahl ging. Sie schwiegen und beobachteten ihn weiter, als er umkehrte und noch einmal zählte. Anschließend verbrachte er einige Zeit damit, auf seine Finger zu starren.
»Einundfünfzig?« fragte Oma.
»Ich verstehe das nicht, Frau Wetterwachs.«
»Du solltest sie besser nach den einzelnen Arten zählen.«
Das ergab neunzehn Müde Sorgentröpfe, obwohl es eigentlich nur achtzehn sein sollten.
»Vielleicht ist einer hereingeflogen, weil er die anderen gesehen hat«, spekulierte Himmelwärts. »Wie bei Tauben.«
»So funktioniert das nicht«, erwiderte der Falkner.
»Einer von ihnen ist nicht angebunden«, sagte Oma. »Da bin ich ganz sicher.«
Nur wenige Vögel saßen ruhiger und geduldiger als der Sanfte Falke von Lancre, auch Müder Sorgentropf genannt. Er war ein Fleischfresser, der ständig nach vegetarischem Angebot Ausschau hielt. Die meiste Zeit verbrachte er damit, einfach nur zu schlafen. Wenn ihn die Umstände zwangen, Nahrung zu suchen, saß er an irgendeiner windgeschützten Stelle auf einem Zweig und wartete darauf, daß etwas starb. Im Vogelhort hockten die Sorgentröpfe zunächst genauso da wie die anderen Vögel. Aber es dauerte nie lange, bis sie einnickten, sich mit fest um die Sitzstangen geschlossenen Krallen zur Seite neigten und schließlich nach unten hängend schlummerten. Festgreifaah züchtete diese Vögel, weil es sie nur in Lancre gab und er ihr Gefieder hübsch fand. Doch alle Falkner, die etwas auf sich hielten, vertraten folgenden Standpunkt: Bei der Jagd mit einem Sanften Falken konnte man nur dann auf Beute hoffen, wenn man ihn in eine Schleuder spannte.
Oma streckte die Hand danach aus.
»Ich hole dir einen Handschuh«, bot sich Festgreifaah an, aber die alte Hexe winkte ab.
Der Vogel hüpfte auf ihr Handgelenk.
Oma Wetterwachs schnappte nach Luft. Einige Sekunden tanzte grünes und blaues Licht wie von brennendem Sumpfgas über ihren Arm.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Himmelwärts.
»Es ging mir nie besser. Ich brauche diesen Vogel, Festgreifaah.« »Es ist dunkel, Frau Wetterwachs.«
»Das spielt keine Rolle. Aber er sollte eine Haube bekommen.« »Oh, Sanfte Falken statte ich nie mit Hauben aus, Frau Wetterwachs.
Sie machen keine Probleme.«
»Dieser Vogel… dieser Vogel…«, sagte Oma. »Ich schätze, dieser Vogel ist ein Vogel, den noch nie jemand gesehen hat. Gib ihm eine Haube.«
Festgreifaah zögerte. Er erinnerte sich an den Kreis aus verbrannter Erde und ein Geschöpf, das nach der richtigen Gestalt suchte, um zu überleben…
»Es ist doch ein Sanfter Falke, oder?«
»Was veranlaßt dich, diese Frage zu stellen?« erwiderte Oma langsam. »Immerhin bist du hier der Falkner.«
»Was ich im Wald gesehen
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