Ruht das Licht
hervor und wählte Grace’ Nummer. Schon in diesem Moment war mir klar, dass das keine gute Idee war, aber ich konnte einfach nicht anders.
Jemand nahm ab und nach einem Augenblick Stille erklang die Stimme ihres Vaters statt ihrer.
»Ich gehe nur dieses eine Mal ans Telefon, und zwar um dir mitzuteilen, dass deine Anrufe hier nicht erwünscht sind«, sagte er. »Wirklich, Samuel, wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du das für heute besser bleiben. Ich will nicht mit dir sprechen. Und ich will nicht, dass Grace mit dir spricht. Lass es einfach –«
»Ich will wissen, wie es ihr geht.« Ich überlegte, ob ich ein Bitte daranhängen sollte, aber das brachte ich nicht über mich.
Zuerst kam keine Antwort, so als hörte Grace’ Vater gerade jemand anderem zu. Dann erklärte er: »Sie hat nur Fieber. Ruf nicht mehr an. Ich muss mich hier wirklich sehr zusammenreißen, um nichts zu sagen, was ich später bereuen würde.« Diesmal hörte ich eine Stimme im Hintergrund – die von Grace oder ihrer Mutter –, dann wurde aufgelegt.
Ich war ein Papierschiffchen, das in einem gewaltigen, dunklen Ozean trieb.
Ich wollte nicht zu Becks Haus fahren, aber ich hatte sonst nichts, wo ich hinkonnte. Ich hatte niemanden, zu dem ich gehen konnte. Ich war ein Mensch und ohne Grace hatte ich nichts außer diesem Auto und einem Buchladen und einem Haus voll leerer Zimmer.
Also fuhr ich doch zu Becks Haus – ich musste endlich aufhören, es als sein Haus zu bezeichnen – und parkte in der leeren Auffahrt. Es war einmal vor langer, langer Zeit, da arbeitete ich den Sommer über im Buchladen. Beck war noch ein Mensch und ich verlor mich noch immer jeden Winter an mein Wolfsdasein. Wenn ich damals abends nach Hause kam, war es noch hell, denn im Sommer wurde es nie Nacht, und wenn ich dann aus Becks Wagen stieg, hörte ich Menschen lachen und roch den Grill im Garten. Es war ein komisches Gefühl, jetzt auszusteigen und in der stillen Nacht zu stehen, das Prickeln der Kälte auf meiner Haut zu spüren und zu wissen, dass all diese Stimmen aus meiner Vergangenheit nun im Wald gefangen waren. Alle außer mir.
Grace.
Ich ging ins Haus und knipste das Küchenlicht an; es fiel auf die Fotos, die kreuz und quer verteilt an den Schränken klebten. Dann machte ich auch im Flur Licht. Im Kopf hörte ich Beck zu meinem kleinen, neunjährigen Ich sagen: »Muss denn jede Lampe im Haus an sein? Versuchst du, Außerirdische anzulocken, oder so was?«
Und genauso ging ich auch in dieser Nacht durchs Haus und schaltete alle Lichter an, weckte die Erinnerungen jedes einzelnen Zimmers. Das Badezimmer, in dem ich mich beinahe in einen Wolf verwandelt hätte, kurz nachdem Grace und ich uns kennengelernt hatten. Das Wohnzimmer, wo Paul und ich gemeinsam mit unseren Gitarren gejammt hatten – seine abgerockte alte Fender lehnte immer noch am Kamin. Das untere Gästezimmer, in dem Derek mit seiner Freundin aus der Stadt übernachtet hatte, bis er deswegen von Beck eins aufs Dach kriegte. Ich schaltete das Licht auf der Kellertreppe an und dann unten in der Bibliothek; danach kam ich wieder rauf und knipste die Lampe in Becks Arbeitszimmer an, die ich vorher vergessen hatte. Im Wohnzimmer blieb ich nur einen Moment stehen, um die teure Stereoanlage aufzudrehen, die Ulrik gekauft hatte, als ich zehn war, damit ich Jethro Tull so laut hören konnte, »wie sie es verdient hatten«.
Oben drehte ich den Schalter der Bodenlampe in Becks Zimmer, in dem er beinahe nie geschlafen hatte. Er hatte es immer vorgezogen, sein Bett als Lagerstätte für alle möglichen Bücher und Papiere zu benutzen, und schlummerte stattdessen regelmäßig auf einem Sessel im Keller ein, ein aufgeschlagenes Buch auf der Brust. Shelbys Zimmer erwachte im trüben gelblichen Deckenlicht zum Leben, unberührt und unbewohnt, ohne persönliche Besitztümer außer ihrem alten Computer. Einen Augenblick lang musste ich mich zurückhalten, um nicht den Monitor einzuschlagen, einfach aus purer Lust an der Zerstörung. Und wenn es jemand verdient gehabt hätte, dann ja wohl Shelby, aber wo blieb der Spaß dabei, wenn sie es sowieso nicht mitbekam? Ulriks Zimmer sah aus, als wäre die Zeit darin stehen geblieben. Auf dem Bett lag immer noch eine Jacke, wie gerade erst hingeworfen, neben einer zusammengefalteten Jeans. Auf dem Nachttisch stand eine leere Tasse. Als Nächstes kam Pauls Zimmer, wo ein Einmachglas mit zwei Zähnen darin auf der Kommode stand – einer war von ihm
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