Ruht das Licht
nahm die Ibuprofen entgegen, aber mir war klar, dass er sie nicht schlucken würde. Ob es daran lag, dass er sich für einen megaharten Macho hielt, oder ob er religiöse Gründe hatte – keine Ahnung. Als er ins Bad ging, hörte ich auf jeden Fall, wie er die Flasche mit den Pillen abstellte, aber nicht, wie er sie öffnete. Dann lief Wasser in die Wanne. Mit angewidertem Gesichtsausdruck wandte Sam sich ab. Anscheinend mochte er Cole nicht besonders.
»Also, Romulus«, fing ich an und Sam drehte sich wieder um, die gelben Augen geweitet. »Was machst du hier so ganz alleine? Ich dachte eigentlich, um das mal zu erleben, müsste man Grace und dich operativ trennen.« Nachdem ich die letzte Stunde mit Cole verbracht hatte, dessen Gesicht nur die Gefühle preisgab, die er auch zeigen wollte, war es eigenartig, diesen unverhüllten Schmerz in Sams Blick zu sehen. Allein seine dichten schwarzen Augenbrauen ließen ihn geradezu bemitleidenswert wirken. Vielleicht hatten er und Grace sich ja gestritten.
»Ihre Eltern haben mich rausgeschmissen«, erklärte Sam und verzog den Mund für eine Sekunde zu einem Lächeln, wie man das eben macht, wenn etwas nicht im Geringsten lustig ist und man es auch niemandem erzählen will, aber nicht weiß, was man sonst machen soll. »Grace ist, äh, krank geworden und da haben sie, äh, uns zusammen gefunden und mich rausgeschmissen.«
»Was, heute?«
Er nickte, ziemlich niedergeschlagen und sehr ehrlich, und ich konnte ihn kaum ansehen. »Ja, ich bin erst kurz vor euch hier angekommen.«
Die grelle Beleuchtung der vielen Lampen im Haus schien plötzlich eine ganz andere Bedeutung zu bekommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn dafür bewunderte, dass er alles so stark und heftig empfand, oder ob ich ihn dafür verachtete, dass er so tiefe Gefühle hatte, dass sie zu allen Fenstern hinausdrangen. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
»Aber, äh …«, sagte Sam und ich spürte, wie er sich in diesen zwei kleinen Worten wieder sammelte, wie ein Pferd, das seine Beine unter sich ordnete, bevor es wieder aufstand. »Egal. Erzähl mir was über Cole. Wie kommt’s, dass ihr zwei …«
Ich sah ihn scharf an, bis mir klar wurde, dass er meinte: Wie kommt’s, dass ihr zwei euch kennt? »Ach, das ist ’ne lange Geschichte, Wolfsjunge«, seufzte ich und ließ mich aufs Sofa fallen. »Ich konnte nicht schlafen und da hab ich ihn an der Hintertür gehört. Es war ziemlich eindeutig, was er war, und auch ziemlich eindeutig, dass er sich so schnell nicht zurückverwandeln würde. Ich wollte halt nicht, dass meine Eltern es rausfinden und ’nen Anfall kriegen. Ende.«
Sams Mund verzog sich zu irgendwas, was ich nicht deuten konnte. »Das war ziemlich nett von dir.«
Ich lächelte schwach. »Soll vorkommen.«
»Meinst du?«, hakte Sam nach. »Ich glaube, die meisten Leute würden einen nackten Fremden draußen stehen lassen.«
»Tja, ich wollte nicht auf einen Haufen abgefrorene Finger treten, wenn ich morgen zu meinem Auto gehe«, erwiderte ich. Ich hatte das Gefühl, Sam wollte mir mehr entlocken, fast als hätte er irgendwie erraten, dass das schon unsere zweite Begegnung war und dass sich beim ersten Mal Coles und meine Zunge miteinander bekannt gemacht hatten. Jetzt benutzte ich Coles Finger als Überleitung, um das Thema zu wechseln. »Wo wir gerade davon sprechen: Kommt er wohl klar da drin?« Ich sah den Flur hinunter in Richtung Badezimmer.
Sam zögerte. Aus irgendeinem Grund fiel mir jetzt auf, dass das Badezimmerlicht das einzige gewesen war, das er nicht angeschaltet hatte. Schließlich sagte er: »Geh doch mal klopfen und frag ihn. Ich mach oben ein Zimmer für ihn fertig. Ich brauche – ich brauche nur kurz eine Minute zum Nachdenken.«
»Okay, von mir aus«, entgegnete ich.
Er nickte. Gerade in dem Moment, als er sich abwandte, um nach oben zu gehen, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht, in dem sich eine derart intime Empfindung spiegelte, dass sich in mir der Verdacht regte, er sei vielleicht doch kein so offenes Buch, wie ich geglaubt hatte. Am liebsten hätte ich ihn aufgehalten und gebeten, die Lücken in unserem Gespräch zu füllen – was mit Grace nicht stimmte, warum das Licht im Badezimmer nicht an gewesen war und was er jetzt machen wollte –, aber dafür war es viel zu spät und außerdem war ich nicht so ein Mädchen, zumindest noch nicht.
COLE
Der schlimmste Schmerz war schon vorbei. Jetzt lag ich nur noch im Wasser, ließ die
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