Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
überflüssigen Wangenküsse zum Abschied, ich weiche zurück, ihre Küsse gehen ins Leere wie die Ghettofäuste mit Feargus’ Leuten. Dem Politiker gebe ich einen Tipp mit auf den Weg in die Nacht, um das bankrotte Land zu retten: Sie sollen aufhören sich zu küssen, die dadurch gewonnene Zeit könne man effizienter nutzen. Er lacht säuerlich, die Tochter schaut nur angewidert, als ob ich sie unsittlich berührt hätte, der Hosenanzug steht verloren im Halbdunkel. Es hat endlich aufgehört zu regnen, eine Schnake torkelt vorbei, wie ein Sendbote des nahen Frühlings, und ich fühle mich plötzlich sehr zu der siechen Freundin hingezogen. Ich könnte sie dem Linken ausspannen, nur wie? Vielleicht kann sie gar nicht reden, sie hat den ganzen Abend kein Wort gesagt, ich müsste Gebärdensprache lernen. Gibt es einen Unterschied zwischen deutschen und portugiesischen Gebärden? Gibt es Gebärdendialekte? Gebärdenlegasthenie? Ich lasse es lieber, verzichte auf den letzten Sieg über den Kommunismus im Sardinenviertel, meine Straßenbahn kommt, die letzte in dieser Nacht, ich muss los. Im Wagen sitzend, sehe ich das Grüppchen sich entfernen, die Moribunde im roséfarbenen Hosenanzug dreht sich noch einmal um und schickt mir einen fragenden Blick, auf den ich keine Antwort weiß, zu spät, alles zu spät. Als die Straßenbahn anfährt, fällt mir ein, dass ich meine Socken unterm Tisch liegengelassen habe. Jetzt habe ich doch Mitleid mit ihnen, sie haben es geschafft.
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Tod in Budapest
Wir sitzen gefangen
In unserer eigenen Welt
Starren in den Fernseher
Der uns die Welt zeigt
Wie sie uns gefällt
Diese Welt gibt dir alles
Nur um zuzusehen
Wie es dir wehtut
Wenn sie es dir
Wieder nimmt
Max Müller
Ich rede gerne mit Menschen, ja, das muss man so sagen, statt sie anzustarren, zu ignorieren, mit ihnen zu schlafen oder sie zu hassen, das kann man alles danach immer noch, aber zunächst einmal reden. Meine Mutter hat mir erzählt, ich hätte als Kind sogar mit Holz geredet und mit Hunden, aber mit dem falschen Ende, der wedelnde Schwanz war mir wohl kommunikativer. Bereits damals ließ ich mich offenbar von Paul Watzlawicks Axiom, dass man nicht nicht kommunizieren könne, durchs Leben lenken. Reden ist für mich wie Atmen, die beiden Tätigkeiten sind sich ja im Grunde nicht unähnlich und wichtiger als Essen, Essen ist verzichtbar, Reden nicht. Ohne Kommunikation wären wir ausgestorben, ohne Essen nicht, wir hätten gelernt, uns osmotisch zu ernähren, das ist wohl auch der Grund, warum ich nach wie vor mit Bäumen rede, vielleicht, um ihnen die Technik der Fotosynthese zu entlocken. Ich habe einmal in Japan einen ganzen Nachmittag mit einem trisomischen Kind geredet, es ging, wir erfanden eine neue Sprache.
Ich war immer Finnlandfan, schon als es Finnland noch gar nicht gab, also für mich, als sich mein Bild vom Land lediglich aus einer Handvoll abgegriffener Klischees speiste. Ich war natürlich umgehauen von Aki Kaurismäkis «Varjoja Paratiisissa» (Schatten im Paradies), den ich etwa zehnmal gesehen habe, aus dem ich ganze Passagen nachsprechen kann: «Ich heiße Nikander, ich bin Müllmann, Leber im Arsch, Lunge im Arsch, und im Kopf stimmt es auch nicht mehr so richtig.»
Kati Outinen war für mich, und ist es noch, was für andere vielleicht Pamela Anderson, Marilyn Monroe oder Doris Day ist, nein, Doris Day vergöttere ich natürlich auch, und wenn die Schnittmenge aus Doris und Kati die denkbar kleinste ist, fühle ich mich in ihr doch am wohlsten, vermutlich weil da sonst niemand ist, einer muss doch diese Schnittmenge verwalten. Und wenn Finnland so eine Saite in einem zum Klingen bringt, wird man schnell auf das aufmerksam, was von dort so berichtet wird, etwa, dass das einzige Weinanbaugebiet Finnlands vom Kühlwasser des Atomkraftwerks Olkiluoto geheizt wird, einem Kraftwerk, das zudem sein eigenes Blasorchester hat. Wein, Kernspaltung und Blechbläser, mein Finnlandbild wurde klarer und lockender. Und eines Tages, das war 1990, las ich von einem Midnight Sun Film Festival im Lappländischen Sodankylä, das Aki und Mika Kaurismäki seit vier Jahren um die Mittsommerzeit veranstalteten (sie tun es immer noch), eine Meldung, die mich ganz umnebelte und alle anderen Sinne paralysierte, da musste ich natürlich hin. Mittsommertag ist übrigens der einzige Tag im Jahr, an dem die finnische Flagge auch nachts gehisst bleiben darf, ein weiteres Mosaiksteinchen zum Bild eines Landes
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