Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
einen hohen Verwaisungsgrad aufweist wie andere italienische Städte dieser Größenordnung, auch prachtvoller, stark reduzierter Neoklassizismus mit vielen Anleihen bei der internationalen Moderne, die gemeinhin dem Faschismus zugeordnete «Architettura Razionale». Mitten in der Stadt steht ein Gefängnis wie eine riesige Torte (La Rotonda), und daneben ein gigantischer Wohnbau aus den fünfziger Jahren, so unglaublich brutal ins alte Stadtbild gepresst, dass es eine staunenmachende Freude ist, denn der Bau hat durchaus eine entdoofte Filigranität im Detail, und wenn man ihn aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, sieht er aus wie eine Scheibe. Es gibt ferner eine aberwitzige brutalistische Bibliothek, bereits eine Ruine, von der ein Historiker bei der Erstbegehung meinte, dass er froh sei, ihr einen Besuch abgestattet zu haben, denn das sei die schlimmste Architektur, die er je gesehen habe.
In der wunderbaren Trattoria Il Purgatorio, zu Deutsch: Fegefeuer, die ausgerechnet der Herbergsvater der spartanischen Diözesanunterkunft (so viele Quartiere gibt’s hier nicht, der dorrende Tourismuszweig beschränkt sich inzwischen auf Tagesausflügler) empfiehlt, gibt’s einen Haufen Schnecken (Lumache), die man mit Stricknadeln aus dem Gehäuse fummelt, dazu individuell geschnitzte, in Schmalz gebratene Kartoffelprismen und Ravioli gefüllt mit Bottarga, Meeräschenrogen, mit Eierbrei haben sie es hier offenbar. Als Abschluss dann einen schönen Casu Marzu, das ist eine Art Pecorino, in dem es von Maden wimmelt, Käsefliegen haben in ihm ihre Eier deponiert, die geschlüpften Maden fressen sich in den Käse und wandeln ihn durch Verdauung um, sodass er eine cremige Konsistenz und ein kräftiges Aroma bekommt und eine Flüssigkeit absondert, die lagrima (Träne) genannt wird. Natürlich isst man die fleißigen Maden mit.
Aufpassen sollte man bei Fahrten durch die Gallura, dass man sein Karmakonto nicht noch mehr belastet, wie schon durch den tausendfachen Verzehr von Maden und Mikroeiern, indem man, wenn eine Schildkröte die Straße kreuzt, ihr auf die andere Seite hilft. Zu vermeiden ist allerdings eine Gegenrechnung, wie viele Eier kann ich essen, was wiegt das gegen diese phlegmatische Panzerechse im Alter meiner Oma, die ich eben gerettet habe, denn das ist doch nicht der Sinn des Karmakonzepts. Beneidenswert ist die Vorstellung, dass so ein langsamer Organismus vermutlich auch stark verzögert realisiert und reflektiert, was um ihn herum so passiert. Morgen oder in einer Woche denkt das rezente Reptil dann vielleicht: «Was war das denn gerade eben?»
Auf einer Anhöhe oberhalb von Tempio thront von allen Punkten der Stadt gut sichtbar ein merkwürdiger Turm, leicht konvex, düster, was kann das sein? Beim Näherkommen stellt es sich als ein verwaistes Hotel heraus, eine moderne Ruine, erbaut in den siebziger Jahren, hatte nur fünf Jahre offen, wie spätere Recherche ergibt, dann blieben die Gäste aus, und das ist hier überall so. Alle planen und bauen, aber haben keine vernünftige Infrastrukturidee, Personal gibt’s auch nicht. Als Ichnusa noch nicht von Badetouristen besucht wurde, als Baden und Brutzeln noch kein Massentrend war, kamen sie nach Tempio wegen der Heilquelle (Fonte Rinaggiu), die am Rande der Stadt sprudelt, unterhalb des Hotels auf dem Hügel, aber das ist jetzt kein Grund mehr, alles, was geschäftlich mit der Heilquelle inmitten eines schattigen Hains zu tun hat, geht ein wie eine Primel in der Nacht, wiewohl am Brunnen immer ein ziemlicher Auftrieb herrscht. Menschen aus der Umgebung kommen mit Autos und befüllen ganze Kanisterbatterien, sie tun das so ernsthaft, als könnten sie damit ein zweites Leben erlangen, gleichzeitig versammeln sich um sie herum Myriaden von Fliegen, was treibt die an? Die Hoffnung, dass hier ein auf Heilung Hoffender verendet und sie ihn auffressen können? Auch hängt ein Grüppchen gelangweilter Emos oder Gothics herum (modisch gestylt natürlich, wir sind ja hier in so was wie Italien). Auf die Frage, was sie hier machen, denn das Wasser kann es nicht sein, das interessiert sie doch wohl nicht, haucht eine von ihnen: «Wir lieben die Kühle.» Die Fliegen nehmen sie in Kauf, vielleicht genießen sie auch den Lufthauch, den die Zweiflügler ihnen zuwedeln. Neben der nimmermüden Quelle befindet sich ein großer Thermenkomplex im Space-Age-Stil, auch hier alles kaputt, zu, wie bestellt und nicht abgeholt, am Konsumenten vorbeigeplant, ein Jammer,
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