Runenschild
ziehen? Lancelot konnte das nicht glauben und er
glaubte es immer weniger, mit jedem Schritt, den sich das
Einhorn den gewundenen Felspfad hinabbewegte und sich
dem im Aufbau begriffenen Heerlager näherte.
Natürlich blieb seine Annäherung nicht unentdeckt. Lancelot war vielleicht noch hundert oder hundertfünfzig
Schritte vom Rand des Lagers entfernt, als eine der hastig
aufgebauten Palisaden aus Weidenzweigen und Stroh zur
Seite geschoben wurde und ein einzelner Ritter auf einem
gepanzerten Schlachtross und in einer silbernen Rüstung
erschien. Lancelots Herz begann schneller zu schlagen,
denn er hielt den Reiter im allerersten Moment für niemand anderen als Artus selbst, doch als er näher kam, erkannte er seinen Irrtum. Der Mann trug die Farben und das
Banner Camelots und auch seine Rüstung ähnelte der des
Königs, aber dieser Eindruck löste sich in Luft auf, als er
näher kam. Obwohl vollständig gerüstet und bewaffnet,
trug der Reiter keinen Helm, doch Lancelot erkannte ihn
trotzdem nicht. Es musste sich zweifellos um einen Tafelritter handeln, aber wenn, dann war er erst zu Artus gestoßen, nachdem er, Lancelot, die Burg verlassen hatte.
Als sie noch zwanzig Schritte voneinander entfernt waren, ließ Lancelot das Einhorn anhalten. Anders als sein
Gegenüber trug er einen Helm mit heruntergeklapptem
Visier und er machte auch keine Anstalten, es zu öffnen,
als der Reiter langsam näher kam und ihn mit gleichermaßen misstrauischen wie überraschten Blicken musterte.
Lancelot seinerseits beobachtete nicht nur ihn, sondern
auch das Lager in seinem Rücken. Die Palisade war nicht
wieder geschlossen worden und er sah, dass dort, wo der
Reiter erschienen war, mindestens zwei Dutzend Männer
Aufstellung genommen hatten; gut die Hälfte von ihnen
mit den gefürchteten Langbogen bewaffnet, die auf eine so
kurze Distanz ohne Mühe selbst eine Rüstung durchschlagen konnten. Niemand hatte auf ihn angelegt oder seine
Waffe auch nur erhoben, aber Lancelot hatte oft genug mit
eigenen Augen gesehen, wie schnell diese Männer einen
Pfeil auf die Sehne zaubern konnten.
»Sir Lancelot, nehme ich an?«, fragte sein Gegenüber.
Er hatte eine dunkle, volltönende Stimme, die nicht so
recht zu seinem im Grunde noch sehr jugendlichen Aussehen passen wollte, und in seinen Worten schwang ein widerwilliger Respekt mit, der ihm unangenehm zu sein
schien. Er hatte die rechte Hand auf den Schwertgriff gelegt, aber es war nichts Bedrohliches an dieser Geste.
Lancelot nickte. »Und Ihr seid …?«
»Nennt mich einfach Thomas«, sagte der Ritter.
»Nun, Sir Thomas …«, begann Lancelot, wurde aber
von dem Dunkelhaarigen sofort und mit einem Kopfschütteln unterbrochen.
»Ich bin kein Ritter im eigentlichen Sinne. Thomas genügt.«
»Aber Ihr tragt Rüstung und Waffen eines Ritters?«
Der andere lachte, aber es klang eher verbittert als amüsiert. »Es herrscht im Moment auf Camelot kein Mangel
an Rüstungen und Waffen, sondern eher an Männern, die
sie tragen könnten. Es stimmt zwar, dass ich pro forma
zum Ritter geschlagen wurde, um einer dieser Ausrüstungen würdig zu sein. Aber wie Ihr ja selbst wisst, sind ganz
besondere Anforderungen zu erfüllen, wenn man von Artus’ Tafelrunde aufgenommen werden will. Davon bin ich
noch meilenweit entfernt – und so wie es aussieht, wird es
mir auch nicht mehr vergönnt sein, dieses Ziel zu erreichen.«
Lancelot runzelte überrascht die Stirn und drehte dann
demonstrativ den Kopf von links nach rechts und wieder
zurück, um die gewaltige Heermasse zu überblicken, die
hinter Thomas lag. Sein Gegenüber musste die Frage, die
diese Bewegung ausdrückte, auch ganz genau verstehen,
aber er machte keine Anstalten sie zu beantworten und
schließlich ergriff Lancelot wieder das Wort. »Hat Artus
Euch geschickt, um mit mir zu verhandeln?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich soll Euch zu ihm
bringen, wenn Ihr das wünscht. Und Euch freies Geleit
zusichern.«
Im Grunde genommen hätte Lancelot jetzt innerlich aufatmen müssen. Dass er überhaupt noch lebte – geschweige
denn, so weit gekommen war –, war gar nicht selbstverständlich. Er hatte sein Kommen weder angekündigt noch
auf irgendeine andere Art zu erkennen gegeben, dass er als
Unterhändler erschien. Artus hätte ihn auf der Stelle gefangen nehmen oder töten lassen können, ohne seine Ehre
dabei zu verlieren oder auch nur Gefahr zu laufen, dass
ihm irgendjemand einen Vorwurf
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