Runlandsaga - Wolfzeit
...
Nein, es war der Körper dieses Ranár, natürlich. Sie saß im höchsten Raum der Schwarzen Nadel an Cesparians Lager, das sie ihm in aller Eile bereitet hatten. Ihr Bruder blickte sie von der anderen Seite des Bettes aus scharf an.
»Du hast einen mächtigen Traum gehabt.«
Misstrauisch legte sie die Stirn in Falten. »Hast du etwa ein Sellarat ...«
»Natürlich nicht!« wehrte Alcarasán ab. Ein verschmitzter Ausdruck stahl sich in sein Gesicht. »Das war überhaupt nicht nötig. Deine Träume sind noch genauso lebendig wie früher. Genauso gut hättest du mir in die Ohren brüllen können. Ich wollte dich nicht wecken, denn ich dachte mir, dass es wichtig sein könnte, was du gesehen hast.«
Manari senkte den Kopf und betrachtete den schlafenden Serephin, den sie in eine grobe Wolldecke gehüllt hatte. Seine gelben Hautschuppen hatten ihren Glanz verloren und schimmerten stumpf. Unter der Decke bewegte sich sein Bauch schwach beim Atmen auf und ab. Für den Augenblick hatte Alcarasán den Eindruck, als ob das fiebrige, wie besessene Verhalten, das er an seiner Schwester erkannt zu haben glaubte, verschwunden war.
»Ich hatte tatsächlich einen mächtigen Traum«, sagte Manari leise. »Er war wie eine Botschaft. Er hat mich auf etwas aufmerksam gemacht, das ich bisher nicht beachtet hatte. Bei unserem Kampf gegen den Wächterdrachen der Luft war auch ein Temari anwesend, ein junger Bursche, der mir in den letzten Tagen schon mehrmals über den Weg lief. Er entkam aus dem Quelor, und er versuchte, die Stadtbewohner vor uns zu warnen.«
Sie sandte Alcarasán das Bild eines hageren jungen Mannes mit blassem Gesicht und dunklem Haar.
»Bei unserer letzten Begegnung fiel er mir zunächst nicht auf. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den Wächter zu vernichten. Aber gerade eben habe ich mich im Traum wieder erinnert. Er war dort. Der Sturm unseres Kampfes konnte ihm nichts anhaben, denn ein Zauber schützte ihn. Wahrscheinlich hatte er das dem Endar zu verdanken, mit dem er bei seiner Flucht zusammen war. Aber das ist noch nicht alles. Er war in den Gedanken des Wächters.«
»Der Drache hatte eine Verbindung zu ihm?«, fragte Alcarasán nachdenklich. »Und du bist diesem Temari immer wieder begegnet?«
Manari nickte wortlos.
»Ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Vielleicht ist er ein Knoten im Netz des Schicksals. Du weißt, was ich meine.«
Alcarasán sah sofort das Bild vor den unsichtbaren Augen seines Geistes, das Manari ihm schickte. In der Welt von Runland war es schwieriger, solche Eindrücke weiterzugeben. Dennoch konnte er es nach einem kurzen Moment, in dem er sich stärker sammeln musste als gewöhnlich, klar und deutlich erkennen: ein riesiges, silbrig glänzendes Gewebe wie ein mit erstem Raureif überzogenes Spinnennetz im Spätherbst. Es war ein Bild, das jeder Serephin kannte. Cyrandiths Netz, das in ihrer Festung Carn Wyryn aufgespannt war, jeder einzelne Faden ein Leben, das irgendwo in einer der zahllosen Welten auf die Leben anderer Menschen traf. Alcarasán hatte dieses Gewebe niemals zuvor gesehen. Kein Serephin hatte jemals die Schicksalsfestung erblickt, außer jenem Verbannten, dem es angeblich als Einziger gelungen war. Aber wie alle anderen Serephin, hatte auch Alcarasán eine Vorstellung davon, wie es aussehen mochte. In dem Bild, das Manari ihm gesandt hatte, waren manche der silbrigen Fäden aufgespannt, ohne kaum jemals mit anderen Fäden in Berührung zu kommen. Doch immer wieder waren auch Bereiche zu erkennen, die dicke Knoten mit vielen Abzweigungen aufwiesen. Im Orden der Flamme hatte man ihn gelehrt, dass, wenn ein Lebensfaden Verknüpfungen zu zahllosen anderen Fäden besaß, es sich um eine bedeutende Persönlichkeit handelte, jemanden, dessen Taten eine Menge Leben beeinflussten, ob jene es nun wahrhaben wollten oder nicht.
»Wenn dieser Temari ein Schicksalsknoten ist«, fuhr Manari fort, »dann erklärt das, warum er uns immer wieder über den Weg lief und überlebte.«
»Ist dir klar, was du damit andeutest?«, fragte Alcarasán scharf. »Wenn er wirklich das ist, wofür du ihn hältst, dann hängt vielleicht die Zukunft dieser Welt von seinen Taten ab. Er könnte für etwas verantwortlich sein, das unsere Pläne mit Runland durchkreuzt!«
»Das wäre möglich. Aber das können wir verhindern. Entferne den Schicksalsknoten aus Cyrandiths Netz, und der Lauf aller Leben, die mit ihm in Verbindung waren, ändert sich.«
Alcarasán schwieg und
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