Rushdie Salman
erwartet habe», sagte sie zu Spiegel, «was bedeutet, dass es nur
noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis ein Verdacht auf
mich fällt.» Manch einer hätte dies für eine seltsame Bemerkung gehalten, da Qara Köz nicht an Syphilis litt, was
eine medizinische Untersuchung unschwer bewiesen hätte, auch sollte sie in ihrem späteren Leben nie an Syphilis
erkranken. Tatsache aber war zudem, dass niemand auch
nur vermutet hatte, dass sich Lorenzo 11. angesteckt haben könnte, was es besonders unverständlich machte,
dass er plötzlich unter dieser Krankheit in ihrer schlimmsten Form litt. Der Fall war also höchst verdächtig, und
in solchen Fällen musste rasch ein Verdächtiger - oder
doch ein Sündenbock - gefunden werden. Wer weiß,
welche Wende die Ereignisse noch genommen hätten,
wäre Argalia der Türke nicht lebend heimgekehrt.
In der Nacht vor seiner Rückkehr konnte Qara Köz erst
nicht einschlafen, als sie dann aber doch schlief, träumte
sie von ihrer Schwester. Auf einem blauen Teppich mit
rotgoldenem Rand, in der Mitte ein rotgoldener Diamant,
saß Khanzada Begum in einem geräumigen Zeltpavillon
aus rotgoldenem Tuch und starrte einen Mann an, den sie
nicht kannte, einen Mann in cremefarbenen Seidengewändern mit rosagrünem Schal um die Schultern, auf
dem Kopf ein Turban in Blassblau, Weiß und ein wenig
Gold. Ich bin dein Bruder Babar, sagte der Fremde. Sie
schaute ihm ins Gesicht, konnte ihren Bruder aber nicht
erkennen. Das glaube ich nicht, sagte sie. Der Mann
wandte sich an einen zweiten Mann, der ein wenig abseits saß. Kukultash, sagte er, wer bin ich? Ihr, antwortete
der zweite Mann, seid ebenso gewiss Zahiruddin Muhammad Babar, wie wir hier in Kundus sitzen. Khanzada
Begum antwortete: Warum sollte ich ihm mehr als Euch
glauben? Ich kenne keinen Kukultash. Bruder und
Schwester blieben im Zelt, Dienerinnen warteten ihr auf,
während er von Soldaten mit Speeren und Bogen bewacht wurde. Gefühle wurden keine gezeigt. Die Frau
kannte ihren Bruder nicht. Sie hatte ihn seit zehn Jahren
nicht mehr gesehen. Noch während Qara Köz träumte,
begriff sie, dass sie selbst sämtliche Personen ihres
Traums war. Sie war ihre Schwester, die, der Familie
entrissen, den Weg der Erinnerung und Liebe nicht finden konnte, auf dem ihr eine Rückkehr möglich gewesen
wäre. Qara Köz war auch ihr Bruder Babar, der grausam
und zugleich so poetisch war, der am selben Nachmittag
Männern den Kopf abschlagen und die Schönheit eines
bewaldeten Berghanges preisen konnte, der aber kein
Land besaß, keinen Flecken Erde, den er sein Eigen nennen konnte, der unaufhörlich durch die Welt zog, um
Raum kämpfte, Orte einnahm und wieder verlor, der jetzt
im Triumph in Samarkand einmarschierte, jetzt in Kandahar, und gleich darauf wieder vertrieben wurde; Babar,
der rannte und rannte, um ein Stückchen Erde zu finden,
auf dem er verharren und bleiben konnte. Sie war auch
Kukultash, Babars Freund, ebenso die Dienerinnen und
die Soldaten, sie schwebte außerhalb ihrer selbst und sah
ihrer Geschichte zu, als passierte sie jemand anderem,
und sie fühlte nichts, erlaubte sich nicht, etwas zu fühlen.
Dann änderte sich der Traum. Baldachin und Zeltkuppel
ver-wandelten sich in roten Stein. Was auf Zeit, tragbar,
veränderbar gewesen war, wurde plötzlich dauerhaft und
unveränderlich. Ein Palast aus Stein auf einem Hügel,
und ihr Bruder Babar machte es sich auf einem steinernen Podest inmitten eines rechtwinklig angelegten Wasserbeckens bequem, eines schönen Beckens, dem Besten
aller Möglichen Becken. Er war so reich, dass er in großzügiger Laune das Wasser aus dem Becken lassen und es
stattdessen mit Gold füllen konnte, auf dass sein Volk
kam und sich an seiner Freigebigkeit erfreute. Er war
wohlhabend und entspannt, ihm gehörte nicht nur ein
Wasserbecken, ihm gehörte ein Königreich. Nur war er
nicht Babar. Er war nicht ihr Bruder. Sie erkannte ihn
nicht. Dieser Mann war ihr fremd.
«Ich habe die Zukunft gesehen, Angelica,,, erzählte sie
Spiegel nach dem Aufwachen. «Die Zukunft ist in Stein
gesetzt und der Nachkomme meines Bruders ein beispiellos mächtiger Herrscher. Wir sind Wasser, wir können
uns in Luft auflösen und wie Rauch verschwinden, doch
die Zukunft ist Reichtum und Stein.» Sie wollte auf das
Eintreffen der Zukunft warten. Und dann würde sie ihr
altes Leben wiederaufnehmen, sich damit vereinen und
wieder ganz sie selbst werden. Sie wollte es besser machen als
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