Rushdie Salman
Vorstellung von sich selbst als
einer Gemeinschaft nur, dass man ein Seiender in der
Welt war, ein Seiender schlechthin, denn schließlich und
unweigerlich war solch ein Seiender ein Seiender unter
Seienden, also Teil des Seins aller Dinge. Vielleicht blieb
die Pluralität nicht allein dem König vorbehalten, vielleicht war sie gar kein gottgegebenes Vorrecht. Da sich
die Überlegungen eines Monarchen gewisslich, wenn
auch in weniger erhebender und kultivierter Form, in den
Grübeleien seiner Untertanen spiegelten, ließe sich weiterhin behaupten, es sei unvermeidlich, dass die Frauen
und Männer, über die er herrschte, sich selbst ebenfalls
als ein «wir» wahrnahmen. Vermutlich sahen sie sich
auch als plurale Entitäten, bestehend aus ihnen selbst plus
der Kinder, Mütter, Tanten, Arbeitgeber, Mitgläubigen,
Kollegen, der ferneren Verwandtschaft und der Freunde.
Dann war für sie ihr «ich» gleichfalls eine multiple Wesenheit, ein Selbst, das zum einen etwa Vater seiner Kinder, zum anderen aber auch Kind seiner Eltern war; sie
wussten, dass sie sich von ihren Arbeitgebern unterschieden, dass sie sich bei ihren Frauen daheim fühlten - kurz
und gut, genau wie er waren sie alle gleichsam Beutel
voller unterschiedlicher Ichs, die barsten vor Pluralität.
Gab es denn keinen wesentlichen Unterschied zwischen
dem Herrscher und den Beherrschten? Nun aber stellte
sich die ursprüngliche Frage in neuer, verblüffender Weise: Wenn seine Untertanen mit ihren vielen Selbstverkörperungen von sich im Singular statt im Plural zu denken
vermochten, konnte er dann auch ein «ich» sein? Konnte
es ein «ich» geben, das einfach nur er selbst war? Lagen
solch nackte, einsame «ich» unter den übervölkerten
«wir» dieser Erde begraben?
Es war eine Frage, die ihm Angst machte, wie er da auf
seinem Schimmel nach Hause ritt, furchtlos, unbesiegt,
doch auch, wie zugegeben werden muss, mit leichtem
Fettansatz; eine Frage, die ihn, kam sie ihm nachts in den
Sinn, kaum mehr schlafen ließ.
Was sollte er sagen, wenn er seine Jodha wiedersah?
Würde sie ihn, falls er es mit einem simplen «Ich bin
zurück» oder «Ich bin’s» versuchte, in der zweiten Person
Singular anreden können, mit jenem «du», das Kindern,
Liebhabern und Göttern vorbehalten war? Und was würde es bedeuten? Dass er wie ein Kind war, ein Gott oder
einfach ein Liebhaber, von dem auch sie geträumt hatte,
den sie so sehnsüchtig ins Sein träumte, wie er sie einst
erträumte? Könnte sich dieses kleine Wort, das «du», als
das erregendste Wort der Sprache erweisen? «Ich», übte
er mit verhaltener Stimme. Hier bin «ich». «Ich» liebe
dich. Komm ZU «mir».
Ein letztes Gefecht störte seine Überlegungen auf dem
Weg nach Hause, denn es galt, einen weiteren fürstlichen
Emporkömmling zu unterwerfen. Der Abstecher führte
ihn zur Halbinsel Kathiawar, wo er den störrischen Rana
von Cooch Naheen bezwingen wollte, einen jungen
Mann mit großem Mundwerk und noch größerem
Schnauzbart (der Herrscher bildete sich allerhand auf den
eigenen Schnauzbart ein, weshalb er für Konkurrenten
nicht viel übrig hatte,, einen feudalen Gebieter, der mit
absurder Vorliebe von Freiheit faselte. Freiheit für wen
und von was, grummelte der Herrscher lautlos vor sich
hin. Freiheit war das Hirngespinst von Kindern, ein Spiel
für Weiber. Kein Mensch war jemals frei. Wie eine
Heimsuchung, die sich lautlos nähert, marschierte seine
Armee unter den weißen Bäumen des Waldes von Gir
dahin, und als man auf der kümmerlich kleinen Burg von
Cooch Naheen an den schwankenden Baumgipfeln das
Nahen des Todes erkannte, sprengte man die eigenen
Türme, zog die weiße Flagge auf und bat ergebenst um
Gnade. Statt besiegte Gegner hinzurichten, heiratete der
Herrscher oft eine ihrer Töchter und verlieh dem unterlegenen Schwiegervater ein Amt, denn ein neues Familienmitglied war ihm lieber als ein verfaulender Leichnam. Diesmal jedoch riss er dem anmaßenden Rana den
Schnauzbart aus dem hübschen Gesicht und zerhackte
den schwächlichen Träumer in grausige Stücke. Er tat es
höchstpersönlich mit dem eigenen Schwert, genau wie
sein Großvater es getan hätte, und zog sich dann in sein
Quartier zurück, um zu zittern und zu trauern.
Mit großen Mandelaugen blickte der Herrscher in die
Unendlichkeit wie eine verträumte junge Dame, wie ein
Matrose auf der Suche nach Land. Die vollen Lippen
waren zu einem weibischen Schmollmund
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