Russen kommen
Buttermilch. Dafür erlaube ich mir eine zweite Tablette.
Ich habe keine Ahnung, wie der zweite Mann ausgesehen hat. Er war einfach zu weit weg. Er dürfte in etwa gleich groß gewesen sein wie der Uni-Professor. Er ist mir eher schlank als dick vorgekommen. Das ist nicht viel, Mira. Gar nicht viel. Es könnte Sachow gewesen sein. Es könnte freilich auch eine Frau gewesen sein. Sonja. Oder irgendeiner von Millionen Durchschnittstypen zwischen hier und Moskau. Ich tauge nicht zur Detektivin. Wollte ich auch nie sein. Wenn »Direktinvest« Anleger gesucht hat, dann sicher nicht bloß Guggenbauer und vielleicht auch Welser, vielleicht auch Flemming. Sie haben keine Millionen zur Verfügung, auch wenn keiner von ihnen arm ist. Das reicht nicht für irgendwelche Projekte in Moskau. Warum hat sich bisher keiner der Investoren gemeldet? Weil »Direktinvest« erst ganz am Anfang steht? Weil die Investoren noch nicht eingezahlt haben und somit nicht geschädigt wurden? Oder weil sie noch immer auf ihre hohen Renditen hoffen? Oder weil man sie unter Druck gesetzt hat? Weil sie auf Dolochow vertrauen? Auf welchen? Es läutet. Ich sehe mich um. Gismo. Sie fehlt mir. Mein Kopf brummt. Dabei ist Aspirin doch gut gegen Kopfweh.
Wo läutet es? Ich habe kein Mobiltelefon mehr. Vesna weiß nichts davon. Wer kann das sein? Festnetz. Da ruft selten einer an.
»Was ist?«, sagt Vesna.
»Komm her. Bitte«, erwidere ich. Vesna fragt nicht nach, ich höre bloß, wie sie auflegt.
»Entweder du hast unglaublich Pech, oder wir sind nahe dran am Russen-Mord«, sagt sie, nachdem ich ihr alles erzählt habe. Sie verspricht, für mich zur Polizei zu gehen und mir sofort ein Wertkartenhandy zu besorgen. »Nicht registriert. Ist am sichersten.« Sie ruft Bruno an, bestellt ihn her und schwenkt ihr Telefon. »Ist auch Wertkartenhandy, habe es gestern gekauft, wollte schon lange so eines, für Ernstfall.«
Ich sehe sie verzweifelt an. »Ich will keinen Aufpasser.« Ich will keinen bosnischen Kleiderschrank in meiner Wohnung, auch wenn er noch so nett ist.
Vesna sieht mich prüfend an. »Du möchtest sicher nicht noch einmal zum Arzt?«
Ich schüttle den Kopf. Bald wird es mir wieder besser gehen. Ist wohl eher der Schock, der mir zu schaffen macht.
»Vielleicht war Messer vergiftet? Verstrahlt?«, überlegt Vesna.
»Danke für den aufmunternden Gedanken.« Ich versuche ein Lächeln.
»Ich gehe jetzt schnell und komme wieder. Bruno passt im Hauseingang auf, ist ohnehin besser. Er soll schauen, wer ins Haus kommt. Und wenn es dir schlechter geht, du rufst sofort an. Sofort!« Sie kritzelt mir ihre Wertkarten-Nummer auf eine alte Zeitung, die auf dem Tisch liegt.
Ich verspreche es. Wenn das Gift allerdings so schnell wirkt, dass ich es nicht mehr schaffe … Vesna eilt davon.
Ich ziehe mich vorsichtig aus, die Jacke und das T-Shirt sind zum Wegwerfen. Mir ist nach einer Dusche. Mit der frisch genähten Wunde? Ich fühle mich, als hätten sie mich über den Asphalt gerollt. Ich dusche ganz vorsichtig, etwas Wasser bekommt der Verband doch ab, aber was soll passieren? Was soll mir noch passieren? Ich ziehe frische Wäsche, eine Jogginghose und eine weite Jacke an, lege mich auf mein Bett und versuche an nichts mehr zu denken. Wer hat meine Tasche? Wo ist Gismo, die sonst an meinem Fußende liegt und schnurrt?
Mir fällt ein, dass ich den Chefredakteur verständigen sollte. Klaus. Nicht zu viel vom Festnetz aus telefonieren. Besser, Vesna macht es. Ich rapple mich auf. Sie soll lieber nicht mit Klaus, sondern mit Droch reden. Meinem alten Freund, dem, auf den jedenfalls Verlass ist. Vielleicht steckt auch der neue Chefredakteur mit den Russen unter einer Decke? Jetzt beginnst du endgültig zu spinnen, Mira. Ich rufe Vesna an und sage einen Satz, der für die meisten wohl unverständlich wäre: »Man sollte die politische Redaktion informieren.« Sie begreift sofort. Ich bin erleichtert. Ich lege mich wieder hin. Oskar. Er erwartet mich am Abend in seiner Wohnung. Ich muss zu ihm. Ich kann nicht. Ich will nicht. Ohne Tasche. Ich muss mir eine andere suchen. Ich habe viele Taschen. Wo? Im Vorzimmerschrank. Später. Ich sollte aufstehen und an der Story weiterarbeiten. Fakten sammeln. Überlegen, ob und wie ich einbauen kann, was ich heute erlebt habe. Mein Laptop. Nicht da. Aber nicht gestohlen. Der ist bei Oskar.
Rumoren vor meiner Türe. Ich schließe die Augen und versuche, es zu ignorieren. Ich höre Oskar. Ich höre Bruno. Ich denke:
Weitere Kostenlose Bücher