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Russische Freunde: Kriminalroman

Russische Freunde: Kriminalroman

Titel: Russische Freunde: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matti Rönkä
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außer ruhig im Wagen zu sitzen und die Fahrt zu genießen. Ungeduld und Jammern waren reine Energieverschwendung.
    »Ich will dir mal von Waleri Karpow erzählen«, sagte ich und stellte die Rückenlehne hoch. Ich begann mit der Bemerkung, dass Waljucha und ich ungefähr gleichaltrig waren. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie eines Tages ein blonder Junge mit rundem Gesicht auf dem Schulhof auftauchte. Er war von irgendwo aus dem Norden nach Sortavala umgezogen, aus einem der perspektivlosen Dörfer Weißmeerkareliens, die der Planung nach einem Staudamm zum Opfer fallen sollten oder einfach keine Zukunft hatten.
    In Waljuchas Elternhaus ging es etwas ungeordnet zu, sein Vater trank, und auch seine Mutter war keine Vorzeigemama. Deshalb latschten wir nach der Schule oft gemeinsam zu uns, schöpften aus dem Sperrholzbottich Preiselbeermus in einen Becher, mischten Zucker und Wasser darunter und tranken die Mischung zu einem Stück Hefezopf. Oft saß Waleri auch noch mit uns am Abendbrottisch, ging erst nach Hause, wenn es schon dunkel war.
    Ich erzählte Korhonen von unseren Skiläufen im Winter. Wir stampften unsere eigenen Pisten in den Schnee, fieberten der Aufnahmeprüfung zur Sportschule entgegen und wurden auch beide in die Schule in Petrozawodsk aufgenommen. Dort lebten wir im Wohnheim und fuhren in den Ferien mit dem Zug oder einem nach Abgasen stinkenden Bus nach Hause.
    »Waleri ist Karelier, hat von seiner Oma und seinem Opa noch Karelisch gelernt und spricht auch gut Finnisch«, erklärte ich. Korhonen sagte, er sei über Karpows sprachliche Fähigkeiten und über seine Geschäftstätigkeit im Bilde, aus eigener Erfahrung und aus dienstlichen Gründen, und habe seine Rechtfertigungen zur Genüge gehört.
    Ich schwieg eine Weile und überlegte, ob Korhonen verstehen oder nur höhnen und spotten würde. »Karpow und ich haben auch zusammen an der Parade zum siebzigsten Jahrestag der Revolution teilgenommen. Das war eine Riesensache, wir durften auf den Roten Platz«, begann ich vorsichtig, als erzählte ich von einem Angelausflug.
    »Sag bloß!«, begeisterte sich Korhonen. »Ich hab die Parade im Fernsehen gesehen, ich erinnere mich noch gut an all die Kanonen und Raketen und die Soldaten im Stechschritt.«
    Ich erzählte ihm, dass wir unbewaffnet gewesen waren. Karpow und ich waren in eine Marschgruppe von tausend jungen Sportlern gewählt worden. Wir trugen alle die gleichen rot-weißen Trainingsanzüge und Mützen, der kalte Winterwind fegte über den Platz, und wir froren und hüpften auf und ab, während wir auf den Abmarsch warteten.
    Nachträglich hatten mich viele gefragt, wie Breschnew ausgesehen hatte und ob ich einen Blick auf Castro, Honecker oder Kádár und Jaruzelski erhascht hatte. Ich wusste, dass ich an ihnen vorbeidefiliert war, erinnerte mich aber nur an eine schwarzgraue Reihe alter Männer mit plüschigen Fellmützen. Natürlich war mir nicht aufgegangen, dass es ein historischer Moment war: die kommunistischen Führer zum letzten Mal beisammen, eine Macht demonstrierend, die sich schon bald verflüchtigen würde.
    Ich hatte mich darauf konzentriert, als Eckmann meiner Gruppe im Takt zu marschieren und an den richtigen Stellen triumphierend zu winken und kleine Fähnchen zu schwenken.
    Ganz aus der Nähe hatte ich beobachtet, wie Marschall Sokolow in einem offenen Zili über den Platz gefahren wurde. Es war großartig und beeindruckend, und doch dachte ich, sicher beißt dich der Frost, Genosse Marschall, zwickt dir in die Wangen und in die unbedeckten Ohren. Es war schneidend kalt in Moskau, der offene Wagen bot keinen Schutz vor dem Wind – du standest da, ein alter Mann, machtest Ehrenbezeugungen und nahmst sie entgegen, kämpftest um dein Gleichgewicht, als der Chauffeur überraschend beschleunigte.
    Bei uns zu Hause hatte die Reise zur Parade rege Geschäftigkeit ausgelöst. Mutter hatte Proviant gebacken und es geschafft, neue Winterschuhe für mich zu ergattern, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass die Sportschule mich für die Reise ausstatten würde. »Dein Vater wäre stolz auf dich«, hatte Mutter geseufzt, eine Träne im Augenwinkel, und ich hatte ihr nicht widersprochen.
    »Es war eine tolle Reise«, seufzte ich. »Falls du das überhaupt verstehen kannst. Ich war bis dahin erst einmal in Leningrad gewesen, um meinen Vater im Armeehospital zu besuchen, ansonsten war ich immer nur zu Hause oder in Petrozawodsk. Moskau war eine Riesensache, und das Revolutionsjubiläum

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