Russische Freunde: Kriminalroman
war noch grandioser.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Korhonen ernsthaft, ohne jeden Spott. »Ich weiß noch, wie Sepi Koistinen, ein Junge aus der Nachbarschaft, zum Sportfest nach Helsinki durfte. Er hatte blaue Shorts und ein weißes Turnhemd, und er gehörte, glaube ich, zu einer Gruppe von Dreikäsehochs, die im Stadion eine Pyramide bilden sollten. Ich war nicht mal neidisch, er war größer als ich, älter, und meine Eltern hätten mich sowieso nicht gehen lassen, zu irgendeinem Saltotraining oder sonstigem urbanen Firlefanz. Es hieß immer, nicht während der Heuernte, oder es war gerade Aussaat oder der Kohl musste verzogen werden, Kartoffelernte oder Dreschen oder Mist ausfahren, immer gab es irgendwas Wichtiges und Notwendiges, weshalb kleine Jungen zu Hause bleiben mussten. Und wenn es bloß der Gottesdienst im Radio war – jetzt schickt es sich nicht, auf dem Hof zu toben, seid still, Jungs.«
Korhonen sah in den Rückspiegel und machte höflich einem Bus Platz, der das Sonnenlicht verdeckte, als er langsam an uns vorbeizog.
»Vielleicht fällt es mir deshalb manchmal schwer, diese Graffitimaler und mit Partydrogen spielenden Teenager zu verstehen. Denen geht’s im Prinzip doch gut, warum müssen die sich beklagen und unsereins Arbeit machen? Es gäbe nämlich genug, die wirklich Hilfe brauchen. Bei vielen geht es zu Hause schlimmer zu, als es sich diese Wohlstandsgören überhaupt vorstellen können. Womöglich spielen die sogar im Gemeindeclub Billard miteinander, aber da sagt doch keiner, come on, bei mir zu Haus, das is’ voll die Härte, aber echt, Mutti hat’n neuen Papa angeschleppt, für ’ne Viddelstunde, aba der hat wahscheinch Aids.«
»Dazu kann ich mich nicht äußern. Ich hab ja keine Kinder«, sagte ich vorsichtig. Ich war mir nicht sicher, ob Korhonen sich so in Fahrt geredet hatte, dass er unberechenbar wurde.
»Vielleicht solltest du dir ein paar Blagen zulegen, alt genug bist du ja. Und Marja auch. Aus dir könnte ein ganz passabler Vater werden, du bist ein Typ, der sich kümmert. Zumindest warst du das früher. Gut möglich, dass Kinder wieder einen anständigen Mann aus dir machen würden«, grinste Korhonen und sah mich nachdenklich an.
»Kümmer du dich lieber darum, dass im Rückspiegel kein Auto mit russischem Kennzeichen auftaucht. Und auf finnische BMW s und Mercedesse solltest du auch achten«, befahl ich ihm.
Ich ruckelte die Lehne wieder tiefer, legte mich zurück und tat, als ob ich schlief.
12
Ich wurde wach und wusste, dass wir falsch fuhren. Der Wagen schaukelte auf einem Kiesweg um das Ende eines kleinen Sees herum, wirbelte Steinchen in das hohe Gras am Wegrand. Der Weg wand sich um einen Ackerkringel zu einer Anhöhe und warf sich auf den Hügel, tauchte in den Nadelwald ein wie in eine Höhle.
»Korhonen, wohin zum Teufel fährst du? Das sieht hier nicht aus wie Joensuu, auch nicht wie Sotkamo oder Kajaani«, brüllte ich.
»Reg dich ab. Wir sind in Tuusniemi. Am Rathaus hängt ein Bronzeschild: Terho Korhonen was born here.« Korhonen zeichnete ein Quadrat in die Luft und redete weiter, als müsse das alles so sein. »Ich hab einen kleinen Abstecher in meine Heimat gemacht. Die Wahnsinnsstrecke schaffen wir sowieso nicht an einem Tag. Man muss sich auch mal ausruhen.«
Er gab Gas und preschte hügelaufwärts. Oben ging der Wald in Felder über. Im Norden endeten die langen, leicht abschüssigen Ackerstreifen an einem bläulich pulsierenden Nadelwald. Im Süden fielen die Felder steil ab, stürzten fast in den schmalen See. Auf der höchsten Erhebung stand ein Bauernhof: ein helles längliches Wohnhaus, ein roter Speicher, eine Sauna und ein vergrauter Stall, der vor sich hin zu modern schien.
Der Weg gabelte sich. Korhonen fuhr auf dem Hügelrücken am Haus vorbei und hielt erst auf der anderen Seite der Lichtung an. Obwohl es keinen Zaun mehr gab, sah man sofort, dass sich an dieser Stelle das Tor befunden hatte. Korhonen wendete, wich souverän jedem Felsen aus, ohne hinzusehen. Er stellte den Motor ab, öffnete die Tür und zündete sich eine Zigarette an, ließ das linke Bein nach draußen baumeln.
»Das ist mein Zuhause«, erklärte er. »Komisch. Ich hab verdammt noch mal mehr Jahre meines Lebens in Malmi verbracht als hier, aber bei dem Wort Zuhause denk ich an das da.«
»Du sprichst auch anders hier, bei dir zu Hause«, sagte ich.
»Ja«, nickte Korhonen. »Obwohl man das nicht romantisieren sollte. Ich bin hier nicht
Weitere Kostenlose Bücher