Russische Orchidee
Stubenmädchen im Hotel habe dem Grafen ein Briefchen zugesteckt und mit ihrer Wange die seine gestreift, als sie ihm eine Tasse Schokolade servierte. Auf der Suche nach diesem Liebesbillett durchwühlte sie die Sachen des Grafen, fand jedoch nichts Verdächtiges, wurde deshalb noch zorniger und bestand darauf, daß sie aus dem Hotel in eine Privatpension umzogen. Aber dort befand sich direkt unter dem Balkon ein Tennisplatz, auf dem zwei junge Engländerinnen in unglaublich kurzen Röckchen herumliefen, und der Graf hielt sich viel zu lange auf dem Balkon auf und sah ihnen beim Spiel zu.
In Venedig verärgerte sie besonders ein allzu langer Blick des Grafen auf die bis über die Knie entblößten Beine einerdunkelhäutigen Schönheit, die mit geschlossenen Augen in einer Gondel saß und ihr Gesicht der Sonne darbot.
»Ihr Benehmen ist sittenlos, Michel!« klagte Irina. »Was erlauben Sie sich? Sie bringen Schande über mich! Und das alles für mein Geld!«
Michail Paurier begriff, daß er verloren war. Der schlaue Tichon Boljakin hatte die Besitzverhältnisse so geregelt, daß im Falle einer Scheidung der Graf arm wie eine Kirchenmaus gewesen wäre.
Kapitel 16
Jelisaweta Beljajewa zitterte im Schlaf vor Kälte, doch aufwachen konnte sie trotzdem nicht. Die Kälte drang zusammen mit dem Heulen des Windes und dem gleichmäßigen Trommeln der Regentropfen an die Fensterscheibe in ihren Schlaf. Der Wind heulte nicht vor dem Fenster des Hotels, nicht in Montreal, sondern in dem alten Eichenwäldchen in Baturino bei Moskau.
Ein verregneter September ging zu Ende, die abgefallenen Blätter verloren rasch ihre leuchtende gelb-orange Färbung, wurden dunkel und häßlich, begannen zu faulen, und der schwere Regen und die Gummistiefel der vereinzelten Datschenbewohner drückten sie tief in den weichen Matsch.
In dem zweistöckigen Haus am Waldrand wohnten längst fremde Leute.
Das riesige, zweitausend Quadratmeter große Grundstück in dem elitären Moskauer Vorort Baturino war dem Großvater noch in der Stalinzeit für besondere Verdienste um die sowjetische Wissenschaft zugeteilt worden. Der Großvater vererbte die Datscha seiner Frau und seiner Schwester zu gleichen Teilen. Vor seinem Tod bat er sie, Haus und Grundstück nicht auseinanderzureißen, sondernwie eine richtige Familie dort zu leben, alle gemeinsam. Er war so naiv zu hoffen, daß das schwierige Verhältnis zwischen seiner geliebten Frau und seiner nicht weniger geliebten Schwester hier in der Sommerfrische am gemeinsamen Tisch in Ordnung kommen würden. Aber nichts kam in Ordnung. Oma Nadeshda fuhr fast nie auf die Datscha, sie war ein Stadtmensch, die Mücken machten sie ebenso nervös wie der gemeinsame Kühlschrank, die gemeinsame Waschgelegenheit auf der Straße, der verkniffene Mund von Klawa, die flinken gierigen Augen von Soja und die giftigen Anspielungen auf irgendeine angebliche Schuld gegenüber ihrem verstorbenen Mann.
Je älter Lisa wurde, desto unbehaglicher fühlte sie sich auf der Datscha, in der fremden, feindseligen Familie. Man machte ihr Vorwürfe, weil sie immer nur Bücher lese und nicht im Gemüsegarten mit anpacke. Von Jahr zu Jahr fuhr sie seltener auf die Datscha. In dem Zimmer, in dem sie gewöhnlich wohnte, richtete man eine Art Vorratskammer ein, man wechselte die Schlösser an der Pforte und an der Haustür aus, gab ihr aber keine neuen Schlüssel.
Oma Nadeshda hinterließ kein Testament, und Waleri und Soja schrieben Haus und Grundstück geschickt und rasch auf Tante Klawa um, vermutlich hatten sie den Notar bestochen, jedenfalls war jetzt Tante Klawa den Papieren nach die einzige Besitzerin. Sie vererbte die Datscha natürlich ihrem Sohn.
Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen, in denen Lisa kein einziges Mal in Baturino gewesen war. Aber in diesem Herbst war sie hingefahren, um ihre Lotta dort im Eichenwäldchen zu begraben.
Die alte Hündin hatte nach der Operation nur noch zwei Monate gelebt. Anfang September versagten ihr die Hinterpfoten den Dienst. Ihr Sterben dauerte lange und warqualvoll, bis zum letzten Atemzug versuchte sie immer noch aufzustehen, blickte Lisa mit ergebenen, ganz menschlich wirkenden Augen an und begann jedesmal zu zittern, wenn jemand in der Familie das Gespräch darauf brachte, daß man das Tier nicht länger quälen, sondern einschläfern lassen sollte.
»Offenbar ist der Hund dir wichtiger als wir alle zusammen«, sagte Michail, »siehst du denn nicht, wie schrecklich das alles für
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