Russka
nicht litten.
Als Boris nun auf diese junge Frau hinunterschaute, die er kaum kannte, jedoch heftig begehrte, wollte er nichts als sie in seine Arme nehmen und von ihr jene warme Zuneigung bekommen, die er nie kennengelernt hatte. Ich will sie lieben und beschützen, versprach er in stummem Gebet.
Zum Schluß der Zeremonie reichte der Priester ihnen einen Becher. Als sie beide daraus getrunken hatten, zertrat er ihn mit dem Absatz. Beim Hinausgehen streuten die Gäste, die fast alle von Elenas Seite kamen, Hopfenblüten über das Brautpaar. Boris seufzte erleichtert. Sie waren verheiratet. Nun würde alles gut werden.
Es folgte die Hochzeitsfeier. Es waren viele Gäste geladen, und wie üblich wurde der Bräutigam zuvorkommend behandelt. Da dies ein wichtiges Familienfest war, nahmen auch die Frauen daran teil. Boris verneigte sich tief vor Elenas alter Großmutter, die von ihrer luxuriösen Abgeschiedenheit in den oberen Gemächern her die ganze Familie beherrschte. Sie dankte ihm mit einem Kopfnicken, lächelte aber nicht dabei – Boris war ein bißchen gekränkt. Auf den Tischen türmten sich die Speisen. Es gab Gans und Schwan, Blini mit Sahne, Kaviar, Fleischpastete mit Eiern, den piroschkij. Außerdem Lachs und jede Art von Süßigkeiten. Auf einem Nebentisch standen Rot- und Weißwein aus Frankreich. Boris war tief beeindruckt. Wer sich solche Weine leisten konnte, gehörte zur oberen Klasse. Bei ihm daheim wurde gewöhnlich Met getrunken. Er fühlte Dankbarkeit, daß er nun zu diesen offenbar reichen Menschen gehörte.
Die Gäste setzten sich an die Festtafel, das Hochzeitspaar nahm die Ehrenplätze ein. Vor dem Mahl wurde Wein ausgeschenkt. Boris trank ein wenig und lächelte in die Runde. Er hatte keine große Sympathie für Elenas Vater, doch den Bruder Fedor verabscheute er geradezu, und ausgerechnet ihm saß er gegenüber. Während Elenas älterer Bruder dem stämmigen, rothaarigen Vater sehr ähnlich war, glich der neunzehnjährige Fedor, schlank und hellhaarig, Elena. Es hieß, er habe sich die Körperhaare auszupfen lassen. Heute hatte er zwar darauf verzichtet, sein Gesicht zu pudern, doch offensichtlich war es massiert und mit Salbe behandelt worden. Selbst über den breiten Tisch weg nahm Boris den Duft des schweren Parfüms wahr.
Es gab viele solcher Dandys in Moskau. Dandy zu sein galt als vornehm, trotz der strengen Orthodoxie des Zaren. Viele waren homosexuell. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Fedor Boris erklärt, er liebe alles Schöne, ob Junge oder Mädchen, und er nehme sich, wen er wolle.
»Schafe und Pferde auch, vermute ich«, war Boris' lapidare Antwort gewesen. Fedor irritierte diese Antwort keineswegs. »Hast du's schon mal ausprobiert?« fragte er in komischem Ernst, und dann, mit einem spöttischen Lachen: »Vielleicht solltest du.« Boris wollte die Angelegenheit nicht weiter tragisch nehmen – Fedor war schließlich der Bruder seiner Braut. Doch die Abneigung gegen Fedor wuchs, und er versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Aus irgendeinem Grund hatte Elena diesen Bruder gern. Das war ihre Hochzeitsfeier. Boris mußte versuchen, diese Leute zu mögen und gut mit ihnen auszukommen. Pflichtschuldig hob er sein Glas und lächelte, als der junge Mann ihm zutrank. Fedor blickte Boris sehr aufmerksam an und sagte laut, so daß viele es hören konnten: »Sei froh, daß du heute dort sitzt, wo du sitzt, Boris. In Zukunft wirst du viel weiter unten am Tisch sitzen als irgendeiner von uns.« Boris fuhr auf: »Das glaube ich nicht. Die Bobrovs sind auf dem gleichen Stand wie die Ivanovs.«
Fedor lachte: »Du bist dir doch im klaren darüber, mein lieber Boris, daß niemand von uns jemals unter dir dienen könnte.« Das war eine schwere und genau kalkulierte Beleidigung. Boris konnte nun aber nicht aufstehen und Fedor dafür schlagen. Die Feststellung über Boris' Familie war vollkommen sachlich vorgebracht, und die Tatsache konnte in einem Schriftstück nachgeprüft werden. Möglicherweise, fürchtete Boris, hatte Fedor sogar recht. Die gesamte russische Oberschicht bis hinunter zum verarmten Adel war in einem ebenso umfangreichen wie heiß umstrittenen Geschlechterbuch verzeichnet. Das war der »Mestnitschestvo«. Entscheidend für den Rang einer Person im System war nicht die eigene Position, sondern die der Vorfahren im Vergleich zu Vorfahren einer anderen Person. So konnte ein Mann sich weigern, bei einem Bankett einen niedrigeren Platz einzunehmen als ein anderer, er konnte selbst
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