Russka
Tributeinnehmer, hatte es Michail anvertraut. »Der Zar möchte das übrige Reich tributpflichtig machen und die Ländereien der opritschnina abgeben. Tatsächlich braucht er dringend Geld. Es wird eine harte Zeit werden.« Sicher würde der Bauer auch von Boris noch mehr geschröpft werden. Es war Zeit wegzugehen. »Und wohin gehen wir?« fragte Karp.
»Nach Osten«, meinte der Vater, »in die neuen Länder, wo die Menschen frei sind.«
Im Frühjahr 1567 starb die Frau des Priesters Stefan. Nach den Regeln der orthodoxen Kirche durfte er nicht wieder heiraten, sondern mußte als Mönch in den Orden eintreten. Also gab er sein Häuschen in Russka auf und zog ins Kloster Peter und Paul auf der anderen Flußseite, doch las er weiterhin die Messe in der kleinen Steinkirche in Russka, wo man ihm viel Achtung entgegenbrachte.
Elena vermißte ihren Freund, der ihr so oft Gesellschaft geleistet hatte. Irgendwie tat ihr der Priester auch leid, der nun Mönch war.
In jenem September war es offensichtlich, daß ein neuer Krieg in den baltischen Ländern unmittelbar bevorstand. Boris freute sich darauf. Während des Sommers war er öfters in Russka gewesen und hatte außerdem eine ruhige, glückliche Zeit mit Elena verbracht. Vielleicht würde er doch noch einen Sohn bekommen. Boris hatte auch den Zaren in Alexandrovskaja Sloboda besucht. Es war ein merkwürdiger Ort. Der Hauptsitz des Zaren wurde in vielem wie ein Kloster geführt.
Am ersten Abend in der schwerbewachten Einfriedung wurde Boris in eine Hütte geführt, wo bereits zwei opritschniki schliefen, und eine harte Bank wurde ihm zugewiesen. Lange vor der Morgendämmerung erwachte er durch schrilles Glockengeläut. »Zum Gebet«, murmelten die beiden, »beeile dich!« In der Dunkelheit des großen Hofes nahmen seine beiden Genossen ihn in die Mitte; in der Ferne sah er ein helles Rechteck, das er für die offene Kirchentür hielt. Doch da hörte Boris plötzlich von oben eine harte Stimme. »Zum Gebet, meine sündigen Kinder!« tönte es. »Was ist denn das für ein alberner Mönch?« erkundigte er sich leise. »Halt den Mund, du Idiot! Das ist doch der Zar!« Es war drei Uhr. Die Morgenandacht dauerte bis ins erste Tageslicht. Boris entdeckte den Zaren in der Menge; vielleicht beobachtete der ihn sogar. Nach einiger Zeit bewegte sich die hohe, dunkle Gestalt an ihm vorbei an die Spitze der Mönchskette und blieb dort schweigend stehen, strich sich hin und wieder durch den langen rötlichen Bart, der mit schwarzen Strähnen durchsetzt war. Plötzlich legte Ivan sich auf den Boden und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Stein.
Niemals seit jener Begegnung an der Wolga war Boris dem Zaren so nahe gewesen. Er empfand große Furcht. Das war jedoch nichts gegen seine Gefühle, die er nach der Messe und der Morgenmahlzeit hatte, als er allein vor den Zaren gerufen wurde. Dieser war in einen schwarzen, goldbestickten und pelzbesetzten Kaftan gekleidet. Er hatte die Gestalt und das scharfe Profil noch in Erinnerung, aber wie alt war Ivan geworden! Sein Kopf glich fast einem Totenschädel. Und doch glaubte Boris nach kurzer Zeit wieder den jungen Zaren vor sich zu haben. Da war der gleiche melancholische Charme, und die dunklen Augen hatten noch den gleichen traurigen Ausdruck.
»Es sind viele Jahre vergangen, Boris Davidov, seit wir uns an den Ufern der Wolga begegnet sind.« Boris nickte.
»Und du erinnerst dich noch an unser Gespräch?«
»An jedes Wort, Herr.«
»Ich auch. Und sage mir, Boris Davidov, glaubst du immer noch, was du damals über unser Schicksal gesagt hast?«
»Aber ja, Herr.«
Ivan betrachtete ihn nachdenklich. »Rußlands Schicksalsweg ist hart«, murmelte er. »Der gerade, schmale Weg ist von Dornen gesäumt. Wir, die wir diesen edlen Pfad gehen, Boris, müssen leiden. Es muß Blut vergossen werden. Wir dürfen nicht zurückschrecken. Ist es nicht so?«
Boris nickte. Als er sich die Bedeutung dieser Worte klarmachte, war er zutiefst bewegt.
»Die Pflichten der opritschniki sind oft hart. Deine Frau mag meine opritschniki nicht«, fuhr Ivan fort.
Das war zwar eine Feststellung, doch Ivan schwieg abwartend, und Boris hätte die Möglichkeit gehabt zu widersprechen. Im Grunde drängte es ihn dazu, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. Nach einer Weile nickte Ivan. »Gut. Lüge mich niemals an, Boris Davidov«, sagte er leise. Er wandte sich der Ikone in der Ecke zu und fuhr mit tiefer, trauervoller Stimme fort: »Sie hat recht. Glaubst
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