Russka
ihnen. Sie hatten sich rein zufällig getroffen. Wilson war früher als Boris nach Russka zurückgekommen, und Stefan ging spazieren. Der Priester, neugierig auf einen Engländer, überhäufte Wilson mit Fragen, und der dachte sich, dieser gebildete Bursche werde ihm vielleicht erzählen, was er wissen wollte.
Bald kamen sie auf die Religion zu sprechen. Wilson war anfangs zurückhaltend, doch Stefan ermutigte ihn. »Ich kenne euch Protestanten. Auch unsere Kirche hat eine Reform nötig, obwohl es unklug ist, gerade jetzt davon zu sprechen.« Wilson zeigte dem Priester schließlich eines seiner gedruckten Pamphlete.
Stefan war begeistert. »Sage mir, was darin steht«, bat er. Wilson übersetzte den Inhalt, so gut er konnte.
Es war eine echte Schmähschrift. Die katholischen Mönche wurden darin als Nattern, Blutsauger, Räuber bezeichnet. Die Klöster wurden reich und eingebildet genannt, die Gottesdienste Götzendienst, und in diesem Ton ging es weiter. »Das geht natürlich gegen die Katholiken«, versicherte Wilson.
Doch der Priester lachte nur: »Das geht auch gegen uns.« Ehe sie in die Stadt kamen, hatte Wilson das Papier klugerweise unter seinem Mantel versteckt. Als sie sich am anderen Ende des Marktplatzes voneinander verabschiedeten, steckte Wilson das Blatt Stefan als kleines Zeichen der Freundschaft zu. Was macht es schon? dachte er. Selbst wenn einer lesen kann, versteht er doch kein Wort davon.
Und das beobachtete Daniel. Im gleichen Augenblick fiel ihm auch auf der anderen Seite des Marktplatzes etwas auf. Karp, der Sohn des Bauern Michail, hatte vor ein paar Kaufleuten, die aus Vladimir gekommen waren, um Ikonen zu kaufen, den Bären seine Kunststücke vorführen lassen. Sie hatten ihm Münzen hingeworfen, die Karp aufhob und seinem Vater gab, der neben ihm stand. Das war alles; doch Daniel war der Ausdruck auf den Gesichtern Michails und Karps nicht entgangen. War es eine Art Einverständnis? Ja, aber nicht nur das. Dieser vierschrötige Bauer hat eben ausgesehen wie ein freier Mann, dachte Daniel. Anscheinend scheffelten sie Geld!
Daniel merkte sich die beiden Beobachtungen gut, und er wollte auf alle Fälle noch mehr erfahren.
Im November 1567, als das Heer sich gerade nach Norden über das verschneite Land auf den Weg gemacht hatte, brach Zar Ivan plötzlich seinen erneuten Feldzug gegen die baltische Region ab und eilte zurück nach Moskau. Boris kam mit der restlichen Armee zurück.
Ein neues Komplott war aufgedeckt worden. Die Verschwörer hatten gehofft, mit der stillschweigenden Duldung des polnischen Königs den Zaren im kalten Norden töten zu können. Viele Namen waren registriert, doch um wie viele mehr mochten an dem geplanten Anschlag beteiligt gewesen sein?
Im Dezember machten die opritschniki sich ans Werk. Mit Äxten unter den Umhängen und mit Namenslisten nahmen sie Hausdurchsuchungen vor. Viele Menschen kamen auf grausame Art ums Leben. Wer Glück hatte, wurde in die Verbannung geschickt. Am Ende der zweiten Dezemberwoche drang eine Gruppe der opritschniki in das Haus des Edelmanns Dmitrij Ivanov ein. Sein Schwiegersohn Boris gehörte nicht zu ihnen. Sie brachten ihn in eine Waffenkammer des Kreml. Dort war schon eine große eiserne Pfanne aufs Feuer gestellt. Darin wurde er zu Tode gequält. Von seinem Tod erfuhr der Zar durch einen Geheimbericht. Die in dem Schreiben erwähnten Namen der über dreitausend anderen, die in den kommenden Monaten starben, seither als »die Synodalen« bekannt, sind der Vergessenheit anheimgefallen – sie durften nie wieder erwähnt werden.
Gleichzeitig wurden alle Klöster im Land aufgefordert, ihre Chroniken dem Zaren zur Durchsicht vorzulegen. Auf diese Weise stellte Ivan sicher, daß keinerlei Berichte über diese furchtbaren Jahre existierten.
Der Mönch Daniel war voller Zuversicht. Gott sei Dank hatte ein Mönch anderthalb Jahrhunderte zuvor die gute Idee gehabt, eine Chronik zu verfassen, und sie enthielt wohl nichts, was den Zaren hätte stören können. Zur Feier der Siege Ivans über die moslemischen Khanate von Kazan und Astrachan fünf Jahre zuvor hatte das Kloster unter den Kreuzen auf den Kirchenkuppeln in Russka Mondsicheln zum Zeichen des Triumphs der christlichen Armeen über den Islam angebracht. Unsere Loyalität kann nicht angezweifelt werden, dachte Daniel zufrieden.
Der alte Abt war so verzweifelt über die neue Säuberungsaktion in Moskau, daß er kaum in der Lage war, seinen Geschäften ordnungsgemäß
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