Russka
Anrede durch den Kaufmann, antwortete jedoch höflich. Er war erfreut, daß der Fremde Russisch sprach, und so unterhielten sich die beiden eine Zeitlang. Wilson war auf der Hut. Er machte dem Schwarzhemd gegenüber keinerlei Andeutung, wieviel er selbst wußte. Durch vorsichtiges Fragen fand er zu seiner Beruhigung heraus, daß Boris, der kürzlich im Hauptquartier des Zaren gewesen war, nicht den Eindruck drohenden Unheils hatte. Dieser Engländer wollte einen Posten Pelze, und er wollte ihn unauffällig haben. Boris hatte zwar nicht viele, doch sicher konnte er noch welche bekommen. Welch ein glücklicher Zufall!
»Komm nach Russka«, sagte er. »Keiner von euren englischen Kaufleuten ist je dort gewesen.«
Der Herbst und das Frühjahr danach waren für den Mönch Daniel gleichermaßen geschäftig und unruhig. Er stand nicht mehr so hoch in der Gunst des Abtes. Und dies war seine eigene Schuld. In seinem Eifer, dem Kloster zu Geld zu verhelfen, bedrängte er die Händler in Russka zu sehr. Nichts von ihren Aktivitäten entging ihm, folglich versuchten sie ihn zu betrügen, wo immer es ging. Natürlich waren beide Parteien in gereizter Verfassung, was den Profit des Klosters schmälerte.
Obwohl von Zeit zu Zeit diskrete Hinweise an das Kloster gingen, ließ der Abt, ein älterer Mann, es bei einem halbherzigen Tadel gegenüber Daniel bewenden. Wenn Daniel zur Antwort gab, die Stadtmenschen seien allesamt Schurken, glaubte der alte Mann ihm nur zu gern.
So wäre es endlos weitergegangen, wäre nicht Stefans Frau gestorben und der Priester nicht zwangsweise ins Kloster eingetreten. Es dauerte nicht lange, und die Händler, die Stefan schätzten, baten ihn, zur Verbesserung der Situation die Aufsicht in Russka zu übernehmen.
Der Abt hatte keine Lust, in Aktion zu treten. Er hatte irgendwie Angst vor dem tatkräftigen Mönch. Trotzdem machte er hier und da seine Bemerkungen. »Du hast gute Arbeit in Russka geleistet, Daniel. Eines Tages solltest du dir eine neue Aufgabe suchen.« Es bedurfte nur weniger solcher Hinweise, damit Daniel sich in wahre Arbeitswut hineinsteigerte, was den Abt noch mehr davon abhielt, ihm nahezutreten. Doch war er um so entschlossener, diesen Mönch loszuwerden.
Stefan seinerseits beobachtete die Entwicklung, ohne sie voranzutreiben. Er hatte andere, persönliche Probleme zu lösen; denn immer noch war er der Geistliche in Russka. Die Leute suchten seinen Rat. So war es nur natürlich, daß er weiterhin die Messe im Haus der Bobrovs las und Elena auch häufiger als früher besuchte. Schließlich konnte das seine verstorbene Frau, Elenas ehemalige Freundin, ja nun nicht mehr tun. Elena hat, so dachte er, weiß Gott ein einsames Leben.
Es war tatsächlich so. Im Herbst war sie zweimal in Moskau bei ihrer Mutter gewesen. Das zweitemal hatte die Mutter sie gefragt: »Ist Boris eigentlich noch unser Freund?« Als Elena zögerte, weil sie es selbst nicht wußte, fügte die Mutter rasch hinzu: »Laß nur.« Und nach kurzem Schweigen: »Sag ihm nicht, daß ich dich gefragt habe.«
»Möchtest du, daß ich eine Zeitlang hier bleibe?« fragte Elena. Doch die Mutter wehrte ab. »Im Frühjahr vielleicht«, meinte sie zerstreut. Elena war nicht nur einsam, sondern auch betrübt. Wie hätte sie sich da nicht freuen sollen, wenn der Priester sie besuchte? Schon bald hatte sich zwischen ihnen eine freundschaftliche Beziehung entwickelt, die harmlos war, solange sie sich nicht durch Worte oder Gesten verrieten, daß sie ineinander verliebt waren. Elena bewunderte den hochgewachsenen dunkelbärtigen Priester, der auf die Vierzig zuging. Er war ein feiner Mensch. Sie erlebten die Gefühle derjenigen, die vorher durch Leiden gegangen sind. Er las für sie die Messe. Sie betete. Dann wieder unterhielten sie sich, doch nie über Persönliches.
Welch außerordentliches Glück, dachte Daniel, daß Gott mir die Gabe geschenkt hat, zwei Vorkommnisse zugleich zu beobachten. Auf diese Weise entgingen ihm nicht die beiden hochwichtigen, wenn auch nach außen hin kaum auffälligen Ereignisse an einem Oktobernachmittag auf dem Marktplatz.
Eines betraf den englischen Kaufmann Wilson, der am Abend zuvor mit Boris eingetroffen war. Nachdem sie einige Zeit bei dem Kaufmann Lev verbracht hatten, waren die beiden nach Sumpfloch geritten, und der Mönch hatte sie nicht mehr gesehen, bis er von der Fähre aus den Engländer in angeregtem Gespräch mit Stefan unterwegs sah. Daniel fuhr rasch wieder zurück und folgte
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