Ruth
Stadt lag. Cheb hatte
sie seit etwa einer halben Stunde beobachtet, nachdem er Tobs Haus wieder verlassen
hatte. Als sie den Hain verließ, trat er von hinten an sie heran. Er bewegte
sich leise und schnell.
„Herrin!“ rief er mit leiser
Stimme.
Ruth drehte sich rasch um. Sie
erkannte ihn sofort. „Was willst du, Cheb?“ fragte sie. „Ich muß vor
Sonnenaufgang zu Hause sein.“
„Ich bringe wichtige
Nachrichten aus Moab. Ich bin gerade mit einer Karawane von dort gekommen.“
„Aus Moab?“ keuchte Ruth.
„Prinz Hedak bat mich, dir eine
Botschaft zu übergeben.“
„Ich wünsche nichts von Hedak
zu hören!“
Cheb zuckte die Schultern.
„Vielleicht wird der Löwe von Juda daran interessiert sein, daß Hedak dir hier
in Israel Botschaften zukommen läßt. Soll ich ihn rufen?“
„Ich habe nichts vor Boas oder
einem anderen Menschen zu verbergen“, sagte Ruth stolz. „Was ist das für eine
Botschaft, die du mir angeblich zu bringen hast?“
„Prinz Hedak bat mich, dir zu
sagen, daß die Zeit seiner Ungnade vorüber ist. Du kannst in Ehren nach Moab
zurückkehren. Ich soll dich zu ihm bringen.“
„Du bist verrückt! Ich werde
Israel niemals verlassen.“
„Warum nicht? Wegen Boas, von
dessen Armen du noch warm bist? Selbst er kann eine Spionin nicht vor dem Zorn
der Leute schützen.“
„Eine Spionin!“ Ruth hielt den
Atem an. Dann wurden ihre Augen schmal. „Boas hat immer gesagt, daß alles, was
er in Israel tut, Hedak in kurzer Zeit bekannt ist. Du mußt der Spion sein,
Cheb. Ich werde dich noch heute anzeigen.“
„Wer wird dir glauben? Wenn
seine Leute erfahren, wie du Boas behext hast, werden sie sich gegen euch beide
wenden. Außerdem, wer würde einer Spionin glauben, wenn ich die Nachricht
überbringe, daß Hedak bereits auf dem Marsch ist, um Israel anzugreifen?“
„Dann muß ich Boas warnen“,
sagte Ruth rasch.
„Tu das!“ rief Cheb. „Aber sag
ihm zuerst, wie du zu der Nachricht gekommen bist. Dann wird selbst Boas nicht
in der Lage sein, die Leute davon abzuhalten, dich als moabitische Spionin zu
steinigen.“
Ruth drehte sich plötzlich um
und rannte in die Stadt zurück, aber Cheb machte keine Anstalten, ihr zu
folgen. „Du wirst bald Hilfe brauchen“, rief er hinter ihr her. „Dann wird es
dir leid tun, daß du auf die Botschaft, die ich dir brachte, nicht gehört
hast.“
Der Tag brach an, und Noëmi war
bereits aufgestanden, als Ruth ins Haus kam. Sie lehnte sich gegen die Tür,
rang nach Atem, ihr Gesicht war bleich.
„Was ist geschehen, Ruth?“
fragte Noëmi schnell. „Hat Boas dich weggejagt?“
„Nein.“
„Hast du getan, was ich gesagt
habe?“
„Ja.“ Ruth atmete wieder
ruhiger. „Ich war die ganze Nacht bei Boas.“
„Was ist los?“
„Hedak!“ keuchte Ruth.
„Aber er ist in Moab.“
„Cheb hat mich angesprochen,
als ich nach Hause ging. Er ist offenbar ein Spion Moabs. Hedak habe nach mir
geschickt, und er marschiere bereits gegen Israel.“
„Hast du mit irgendeinem
anderen darüber gesprochen?“ fragte Noëmi rasch.
„Wer würde mir glauben, wo
ohnehin schon alle der Meinung sind, daß ich eine Spionin sei?“
„Sie werden mir glauben“, sagte Noëmi grimmig.
Ruth ergriff Noëmis Arme und
vergaß für einen Augenblick ihre eigenen Ängste.
„Nicht, Noëmi“, flehte sie.
„Sie werden sagen, daß auch du eine moabitische Spionin geworden seist, während
du in Heschbon lebtest.“
„Boas weiß, daß das nicht wahr
ist.“
„Wenn Cheb dem Rat berichtet,
daß Hedak mir eine Botschaft geschickt hat, wird selbst Boas mir nicht länger
vertrauen.“
Noëmi mußte zugeben, daß das,
was Ruth sagte, wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Nicht wenige Frauen von
Betlehem und Juda haßten Ruth, und sie würden das ganze Volk aufhetzen, wenn
Ruth erst einmal der Spionage angeklagt war. Wenn Ruth oder sie die angebliche
Botschaft, die Cheb von Hedak gebracht hatte, erwähnten, so würden sie sie
Zelda und ihresgleichen ausliefern. Im Augenblick schien es das beste für sie
zu sein, ruhig zu bleiben und zu sehen, was als Nächstes geschehen würde.
Kurz nach Tagesanbruch klopfte
Boas an Tobs Tür. Ada öffnete und ließ ihn ein.
„Sag deinem Herrn, daß ich ihn
sofort sprechen muß.“
„Mein Herr hat einen Besucher“,
sagte Ada seidenweich. „Aber ich werde ihm mitteilen, daß der edle Boas
wartet.“ Wäre Boas nicht ganz mit der Sache beschäftigt gewesen, die ihn zu so
früher Stunde zu Tob führte,
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