Rywig 01 - Bleib bei uns Beate
und zu den Erwachsenen überhaupt. Und es war ja auch nicht bloß dies eine Mal. Als ich acht wurde, schenkte Papa mir ein Fahrrad, und ich war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Weißt du, was Mutter sagte? Ja, du hast’s gut, so etwas bekam ich nicht, als ich so klein war!’ Es war beinahe so, als wäre es nicht in Ordnung, daß ich etwas bekam, was Mama nicht gehabt hatte. Oder sie sagte: ,Denkst du vielleicht, ich habe das gedurft, als ich klein war?’ wenn ich um etwas bat. - Da hörte ich dann allmählich auf, noch um irgend etwas zu bitten. Und ich hörte auf zu reden, hörte auf zu erzählen. - Dann. ja, kurz darauf wurde Hansemann geboren, und Mama starb, und dann kam Tante Julie.“ Ich nickte. Jetzt verstand ich. Und ich ahnte noch mehr:
So wie diese Frau ihren Ältesten nicht verstanden hatte, sogar scheu und mißtrauisch werden ließ, so mochte sie wohl auch ihrem Mann gegenüber gewesen sein.
Mit einem Male war mir alles, alles klar.
„Bernt“, sagte ich, „eins darfst du aber nicht vergessen. Es gibt Menschen, denen ist die gesegnete gute Laune nicht mit in die Wiege gelegt worden. Wir, die wir sie mitbekommen haben, müssen unendlich dankbar dafür sein. Die Menschen, die sie nicht haben, die sind selber am schlimmsten dran. Man kann vor anderen Menschen weglaufen, aber nicht vor sich selber und seiner eigenen Schwermut. Glaube mir, deine Mutter hatte es schwer.“
Bernt sah mich aufmerksam an, und es dauerte etwas, bis er
sprach.
„Da hast du natürlich recht, Beate. Ich muß gestehen, über diese Seite der Sache habe ich noch nicht nachgedacht.“
„Dann tu es jetzt, Bernt“, antwortete ich. „Versuche mal, ob du dich dazu durchringen kannst, daß du voller Mitgefühl an deine Mutter zurückdenkst, anstatt mit Bitterkeit.“
„Du bist klug, Beate“, sagte Bernt, und er lächelte mir zu.
„Nein“, entgegnete ich. „Was Klugheit anbetrifft, so bin ich reinster Durchschnitt. Aber ich bin etwas anderes. Ich bin glücklich.“ „Und Glück ist gerade das, was diesem Hause not tut“, sagte Bernt. „Es ist nötiger als Klugheit.“
„Großer Gott, da kommen die Zwillinge“, rief ich. „Und ich habe Maren versprochen, den Nachtisch zu machen. Bernt, deck doch bitte den Tisch für mich, aber schnell, du mußt flitzen wie ein geölter Blitz - ach liebe Zeit! - die Plätzchen! Die habe ich völlig vergessen!“
Die Macht der Frau
Da waren sie.
Mein Muttchen mit dem alten braunen Koffer in der Hand und mit wachen, gespannten Augen. Heidi mit abstehenden Rattenschwänzen unter einer neuen roten Kappe und mit einem neuen Mantel an - ach, jetzt erkannte ich ihn wieder, es war Ediths alter, der nur gewendet worden war.
Ich rannte den Bahnsteig entlang und umschlang Mutti mit beiden Armen. Der Mund ging, tausend Fragen und Antworten auf einmal, und wir waren über die Maßen glücklich.
Von der Sperre wartete Dr. Rywig.
„Die erste Wiedersehensfreude sollen Sie für sich allein erleben“, hatte er lächelnd gesagt. „Aber ich werde bereit stehen, um das Gepäck in Empfang zu, nehmen, sobald Sie mit den Umarmungen fertig sind.“
Das Versprechen hielt er.
Ich stellte mit einem gewissen Stolz die beiden einander vor. Ich weiß selber nicht recht, worauf ich so stolz war. Aber es war wohl so ein Gefühl, als ich sie zusammenführte, wie: Habe ich nicht eine wonnige Mutter? - und: Habe ich nicht einen sympathischen Chef?
„Aber Herr Doktor“, sagte meine Mutter, „es ist wirklich nicht recht, daß Sie sich solche Ungelegenheiten machen und selber herkommen...“
„Es wäre nicht recht gewesen, wenn ich es nicht getan hätte, Frau Hettring“, sagte der Doktor lächelnd und ergriff Muttis Koffer. „Und da haben wir also die kleine Heidi! Du bist ja ein großes Mädchen, Heidi, gehst du schon in die Schule?“
„Im Herbst komme ich rein“, antwortete Heidi. „Bist du der Doktor, der das mit meiner Nase machen soll?“
In diesem Punkt mußte Dr. Rywig sie enttäuschen. Dagegen war Heidi offenbar sehr beeindruckt, daß sie im Auto neben ihm sitzen durfte.
Mutti und ich saßen auf dem Rücksitz und hielten einander an den Händen und waren beide glücklich, beisammen zu sein.
Zur Feier dieses Tages hatte Hansemann Erlaubnis bekommen, aufzubleiben, bis wir da waren. Er war der erste, der uns auf dem Vorplatz entgegenkam.
Heidi sah ihn an, und er sah Heidi an. „Heidi, das ist Hansemann“, sagte ich. „Von dem hast du schon gehört, nicht wahr?“
Heidi musterte ihn
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