Rywig 03 - Meine Träume ziehn nach Süden
Zimmer mit Tannengrün und Kerzen, und ich kaufte eine kleine Edeltanne, holte Frau von Waldenburgs Baumschmuck aus dem Schrank und putzte den Baum, während mir tausend verschiedene Gedanken durch den Kopf gingen.
Es kamen Pakete aus Norwegen, aus Argentinien und sogar ein Päckchen aus München.
Senta hatte eine Enttäuschung hinnehmen müssen: Rolfs Eltern hatten ihn dringend gebeten, zu Weihnachten doch nach Hause zu kommen. Er wollte es ihnen nicht abschlagen, er war über ein Jahr nicht in Norwegen gewesen.
So waren Senta, Bicky, Lucky, Happy und ich allein.
Wir hörten Weihnachtsmusik im Rundfunk, wir aßen gut, wir saßen im Kerzenschein und packten unsere Geschenke aus. Wir hatten uns lieb und verstanden uns so gut, alles war friedlich und gemütlich. Aber so hundertprozentig ungemischt war meine Weihnachtsfreude doch nicht. Wann würde Papas Entscheidung fallen? Wann würden wir zu wissen bekommen, ob ich die Verwirklichung meines schönsten Traumes mit Senta zusammen erleben durfte? Warum schrieb Papa nicht? Nur Beatemutti hatte geschrieben, mit vielen Grüßen von Papa. Bedeutete es, daß er bis nach Weihnachten warten würde, um uns die Feststimmung nicht zu zerstören? Oder daß er warten wollte, bis wir Anfang Januar nach Hause kämen, und uns mündlich schonend vorbereiten wollte?
Ich war wieder so schrecklich nervös, und es kostete mich viel Selbstbeherrschung, es nicht zu zeigen. Ich wollte Senta doch nicht den Abend zerstören.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Senta sprang auf.
„Leg die Kette vor!“ rief ich ihr nach.
Ich hörte eine Männerstimme, dann wurde die Tür zugemacht, und Senta kam reingetänzelt.
„Telegramm, Sonnie!“
Sie reichte mir ein bereits aufgerissenes Telegramm:
„ihr dürft fahren stop reise anfang april gebucht stop alles weitere mündlich stop frohe Weihnachten papa.“
Ich guckte Senta an. Ich wollte etwas sagen und konnte es nicht.
Senta strahlte, reichte mir beide Hände, sah mich an - und dann schüttelte sie den Kopf.
„Heulste schon wieder!“ sagte Senta.
ZWEITER TEIL
Die Erfüllung
Das Märchen beginnt
Es war ein kühler, klarer Frühlingstag. Der erste Sonntag im April.
Ich saß auf einer gepolsterten Bank. Auf dem Schoß eine prallgefüllte Reisetasche, in der Hand eine Pappkarte mit den Worten „Boarding Card“. Und mit Blaustift dazu geschrieben: SD 683.
Neben mir saß Senta in der gleichen Ausstattung. An meiner anderen Seite ein freundlich aussehender Mann, ungefähr so alt wie mein Vater. Er plauderte mit seiner Frau. Sie schien gleichaltrig mit ihm zu sein, sie war grauhaarig, ein klein bißchen mollig und hatte ein Paar gütige Augen unter einer hohen Stirn - beinahe hätte ich gesagt: unter einer intelligenten Stirn.
Sie sprachen deutsch, ich schätzte sie auf Norddeutschland. Sie gehörten zu unserer Reisegesellschaft. Auch sie hatten die weißen Plastikanhänger an ihrem Gepäck und die Bordkarten mit der Aufschrift SD 683 in der Hand.
Vor uns hatten wir eine riesengroße, schwarze Tafel mit einer langen, langen Reihe ähnlicher Flugbezeichnungen und Uhrzeiten daneben. In kurzen Abständen klang eine Stimme aus dem Lautsprecher:
„Flug SK 504, Abflug nach Kopenhagen, die Passagiere werden gebeten, sich zum Ausgang 15 zu begeben.“ - „Die Fahrgäste nach Paris mit der Air France bitte zum Ausgang 12.“ - „Achtung, Achtung, Passagier nach New York Herr Anderson wird gebeten, sich bei der Information zu melden.“ - „Fluggäste nach Rom bitte zum Ausgang 14.“
Jedesmal, wenn ein Flugzeug gestartet war, rückte die lange Reihe von Uhrzeiten und Flugnummern um eine Zeile höher.
SD 683 war noch ganz weit unten auf der Tafel.
Wir warteten schon eine halbe Stunde. Wir hatten Bescheid bekommen, uns anderthalb Stunden vor dem Abflug im Frankfurter Flughafen zu melden.
Heute früh um neun waren wir mit dem Schiff in Kiel eingetroffen. Auf dem Oslo-Kai wartete Frau von Waldenburg mit Bicky an der Leine.
Senta fiel in ihre Arme, und Bicky sprang an mir hoch, war vollkommen verrückt vor Freude. Ich mußte alles fallenlassen, sie auf den Arm nehmen und mich derart ablecken lassen, daß mein Vater mit seinen strengen Hygienevorschriften in Ohnmacht gefallen wäre... wenn er es gesehen hätte.
Wir frühstückten bei Frau von Waldenburg und plauderten ein Stündchen. Senta war selig. Wenn wir aus Afrika zurückkamen, bekam sie ihr altes Zimmer bei Frau von Waldenburg. So war ihr Zimmerproblem gelöst, sie würde dann
Weitere Kostenlose Bücher