Rywig 11 - Sonnige Tage mit Katrin
sei Dank, ich glaube, da ist Bernt!“
Ja, da war er. Ein paar schnelle Worte wurden gewechselt, und Bernt kam zu mir. Hatte ich eine sachkundige Untersuchung erwartet, so täuschte ich mich. Bernt beugte sich über mich, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und gab mir einen Kuß.
„Ich weiß genau, was du geleistet hast, Allegra“, sagte er. „Aber darüber sprechen wir später. Kannst du laufen, glaubst du? Wir müssen rüber zu uns, ins Behandlungszimmer.“
„Ja.“, flüsterte ich, verwirrt durch all die Geschehnisse und am meisten über Bernts Kuß.
Als ich aber auf den Beinen stand, zitterte ich noch so, daß Bernt mich kurzerhand auf seine Arme nahm und mich rübertrug, zu Serumspritze, Kreislaufmittel und als Extrabehandlung eine herzhafte Umarmung von Katrin.
Aber außer Bernts Kuß und Katrins Umarmung wurde keine große Nummer aus der Geschichte gemacht. Beide waren ruhig, freundlich, kümmerten sich in einer nüchternen, netten Weise um mich. Ich konnte wieder stehen und gehen, das Zittern ließ nach, und als Katrin uns zu Tisch bat, konnte ich mit ins Eßzimmer gehen, ich konnte sogar etwas essen.
Nachher wurde ich allerdings zum Hinlegen kommandiert, auf die Couch im Wohnzimmer.
„Gott sei Dank, daß ihr mich nicht ins Bett schickt“, sagte ich, als ich mich folgsam hinlegte.
„Das wäre eine schlechte Behandlung“, schmunzelte Bernt. „Sich vorzustellen, du würdest einschlafen und von lauter Kreuzottern träumen, schweißtriefend aufwachen und keinen Menschen bei dir haben. Jetzt sind wir beide in deiner Nähe, für den Fall, daß du uns brauchst.“
„Ihr seid so lieb zu mir!“ sagte ich.
„Ach, was du nicht sagst! Erstens bin ich Arzt, habe einen Ärzteeid geleistet, und bin dazu verpflichtet, immer da zu helfen, wo Hilfe nötig ist. Zweitens habe ich nur das gemacht, was ich nach jedem Schlangenbiß tue, ich habe Serum und ein Kreislaufmittel gespritzt. Nur das übliche, was ich bei jedem Patienten tue!“
„Ach so“, sagte ich. „Kriegt denn auch jeder gebissene Patient einen Kuß und eine Umarmung?“
„Das war allerdings eine Extrabehandlung, die ich nur Privatpatienten verpasse“, lächelte Bernt. „Siehst du, Allegra, du bist trotz allem ein Sonderfall. Dadurch nämlich, daß du höchstwahrscheinlich das Leben unseres Kindes gerettet hast.“
„Du warst phantastisch tapfer, Allegra“, sagte Katrin leise.
„Da irrst du dich“, widersprach ich. „Ich war überhaupt nicht tapfer, ich hatte eine solche Angst wie nie in meinem Leben. Eine solche Angst, daß ich nicht einmal schreien konnte. Aber weißt du, wenn du zum Beispiel auf einem Sprungbrett stehst und das Wasser
da ganz tief unten siehst, und es nicht wagst, zu springen.“
„Dann kennst du Katrin schlecht“, unterbrach Bernt sie. „Sie springt von jedem Sprungbrett!“
„Du auch?“ fragte ich.
„Nein, ich würde mich nicht auf mehr als drei Meter wagen.“ „Also, falls du auf einem Zehnmeterbrett stündest, und du trautest dich nicht zu springen, und dann käme jemand von hinten und gäbe dir einen kräftigen Schubs, dann würdest du schon runterplätschern. Aber deswegen wärest du ja nicht mutig!“
„Ich verstehe den Vergleich nicht“, sagte Katrin.
„Verstehst du das nicht? In dem Augenblick, als ich die Kreuzotter sah, empfand ich einen solchen Schreck, daß ich ihn überhaupt nicht beschreiben kann. Aber da war etwas drinnen in mir, es war etwas in meinem Kopf oder in meiner Seele oder - ja, ich weiß nicht, wo es war oder was es war, aber es war etwas, das mich schubste, etwas, das mich dazu zwang, so zu handeln wie ich es tat. Es war - nein, ich weiß nicht was es war. Ich kann nur eins sagen: Dieses ,Etwas’ war stärker als die Angst!“
Ein paar Tage später trat ich frühmorgens aus dem Haus, um mit Bernt in die Praxis zu fahren. Es hatte in der Nacht geregnet, und auf der Terrasse, direkt vor der Tür, lagen ein paar große Regenwürmer. In solchen Fällen hätte ich früher auf der Stelle kehrtgemacht und wäre zur Hintertür rausgegangen. Diesmal bückte ich mich und entfernte mit der Hand die Würmer.
Bernt kam gerade, als ich den letzten ins Gras warf. „Donnerwetter“, sagte er. „Was ein Psychiater dir in monatelanger Arbeit behutsam beigebracht hätte, das hast du durch diese ungewollte Schockbehandlung erreicht. Macht es dir nichts aus, die Regenwümer anzufassen?“
„Nun, ausgesprochen angenehm ist es ja nicht, aber ich kenne schon Schlimmeres.
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