Saat der Lüge
zu merken, dass mein Leben so, wie ich es bisher gekannt hatte, bald vorbei sein würde.
Ich muss dazu sagen, dass Jenny keinen besonders hohen Nachrichtenwert hatte, bis ihr Name bekannt wurde. Anfangs erzeugte sie kein großes Medientrara, und das war auch nicht weiter verwunderlich. In Flüssen tauchen regelmäßig Tote auf, und normalerweise handelt es sich dabei um Alkoholiker, Junkies oder Selbstmörder. Kurz vor Weihnachten hatte die Polizei die Bevölkerung zur Mithilfe bezüglich einer vermissten jungen Frau namens Jenny Morgan aufgerufen, was mir jedoch entgangen war. Nur wenige Zeitungen hatten den Aufruf gedruckt. Schließlich verschwinden jeden Tag Menschen und tauchen normalerweise von ganz allein wieder auf. Manchmal in Flüssen, aber nicht immer.
Die vermisste Jenny schien also nichts Besonderes zu sein, niemand von Bedeutung. Sie hatte nicht lange genug in Cardiff gewohnt, um Freunde zu haben, die sie vermissten oder über sie tratschten, die mit Journalisten sprachen oder an die Bevölkerung appellierten oder Spekulationen anstellten. Sie hatte Wrexham erst wenige Monate zuvor verlassen.
Die Umstände ihres Verschwindens waren ebenfalls nicht reißerisch genug, um die Aufmerksamkeit von Journalisten zu erregen und ganz oben in den Schlagzeilen zu landen. Es gab keinen hitzigen Streit mit einem Lebensgefährten, von dem die Nachbarn berichten konnten, keine in chaotischem Zustand zurückgelassene Wohnung, keine durchsuchten Schubladen oder Drogenutensilien, keine verdächtigen Anrufer oder reumütigen Liebesbriefe, die sichergestellt wurden. Keine Schulden. Auch keinen depressiven oder selbstzerstörerischen Hintergrund.
Als ich später im Archiv stöberte, um eine zeitliche Abfolge der Geschehnisse zu erstellen, sah ich, dass Owain ihr Verschwinden in einem einzigen Absatz auf Seite vier abgehandelt hatte, versteckt zwischen albernen Weihnachtsbeiträgen.
Dass sich zunächst niemand direkt von Jennys Verschwinden angesprochen fühlte, lag wohl auch an der Tatsache, dass ein Teil von Jennys Kleidung und Schmuck fehlte, und man annahm, sie sei bei Freunden in der Gegend von Bristol (laut Polizeimitteilung hatte sie erwähnt, diese besuchen zu wollen). Aber dann stellte sich heraus, dass sie keineswegs bei Freunden war, sondern mausetot. Und zwar schon eine ganze Weile.
Mit der Effizienz der Polizei ist es auch nicht mehr weit her, dachte ich, als erst ganze drei Wochen später die Polizeimitteilung mit der offiziellen Identifizierung der Leiche auf meinem Tisch landete – und ich zum ersten Mal ein Foto von ihr sah. Da war sie. Jenny. Unsere Jenny. Sie war die junge Frau im Fluss. Was das Datum bedeutete, an dem sie laut Polizeimitteilung zum letzten Mal lebend gesehen worden war, war mir sofort klar: Es war der Abend im Charlie’s.
Plötzlich war sie keine anonyme Leiche mehr. Sie war die verschiedene Jennifer Morgan (ihr Nachname war mir bis dahin nicht bekannt gewesen). Und sie war auch schon verschieden gewesen, als Mike und ich auf Schlittschuhen über den Weihnachtsmarkt geglitten waren oder als Cora und ich im Café über sie diskutiert hatten.
Jetzt, wo ihr Name offiziell bekannt war, bekam die Geschichte plötzlich einen menschlichen Hintergrund mit von Kummer zerfressenen Angehörigen, die man zitieren konnte, und deshalb waren zahlreiche Reporter ganz heiß darauf. Weil ich aber bereits über den Leichenfund geschrieben hatte, bestand Owain darauf, dass ich auch die Folgeartikel übernahm. Es war als Belohnung gedacht.
Obwohl in meinem Kopf eine ohrenbetäubende Kakophonie aus Fragen schrillte, musste ich meiner Pflicht nachkommen und den üblichen Rundumschlag machen, also meine Polizeikontakte anzapfen und natürlich bei den lieben Verwandten eine rührselige Hommage an die Verstorbene abholen.
Noch nie war ich so froh darüber gewesen, dass die Familie nicht aus der Gegend stammte. Ich griff also zunächst einfach zum Telefonhörer, vergewisserte mich, dass ich mit der richtigen Mrs Morgan sprach, und ging nach einigen banalen Beileidsbekundungen zu den üblichen aufdringlichen Detailfragen über.
Aber in meinem Magen und meinem Kopf rumorte es, nicht etwa wegen Jennys traurigem Ende, sondern wegen der Schlussfolgerungen, die sich daraus ergaben. Mir war sofort klar, dass wir – ich, Cora, Stevie und Mike – vermutlich zu den letzten Menschen zählten, die sie lebend gesehen hatten. Und wenn Mikes Version der Ereignisse tatsächlich gelogen war, dann war er sogar der
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