Sacramentum
die Nische aus, doch zu seiner Enttäuschung sah er nur das übliche Knochenpaket; ansonsten war die Nische leer. Er schaute in den Nachbarnischen nach. Alle waren leer mit Ausnahme der Knochenpäckchen und der Schädel, die ihn mit ihrem Grinsen verspotteten. Gabriel untersuchte die Wände, den Boden und die Decke. Alles war makellos und bestand aus dem massiven Fels. Also konnte Oscar die Sternenkarte auch nicht vergraben haben.
Gabriel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Einzige, was es in Nische XIV gab: das Knochenpaket und den Schädel. Zunächst hatte er das Paket ignoriert, weil es zu klein aussah, doch nachdem er alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hatte, war das der einzige Ort, an dem die Sternenkarte sein konnte. Er griff hinein und hob das Paket von seinem Platz.
»Bitte«, sagte Athanasius, »stören Sie nicht die heiligen Reliquien.«
Gabriel hätte ihn gerne ignoriert, doch in dem Augenblick, als er das Päckchen in der Hand hielt, spürte er schon, dass es viel zu leicht war. Ein Stein war da nicht drin. Was auch immer Oscar hier vor neunzig Jahren versteckt hatte, es war nicht mehr hier. Irgendjemand musste es gefunden haben. Vorsichtig legte Gabriel das Knochenpaket wieder zurück und strich mit der Hand über den kalten, sauberen Stein.
»Warum ist es hier eigentlich so sauber?«, fragte er.
»Dies hier sind die ältesten Knochen im Beinhaus«, erklärte Athanasius. »Es sind die Gebeine der ersten Prälaten des Berges. Daher hat der Rat beschlossen, etwas zu unternehmen, um sie zu bewahren.«
»Wann war das?«
»Vor ungefähr zehn Jahren.«
Gabriel nickte. Er kam zehn Jahre zu spät. »Kommt sonst noch jemand hier herunter?«
»Nur die Sanctusnovizen. Als Teil ihrer Vorbereitung verbringt jeder Novize eine gewisse Zeit hier unten, um sich bewusst zu machen, dass er nun Teil einer Kette ist, die bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreicht. Diese Katakomben sind genau genommen ein riesiges Reliquiar, und die Knochen der Prälaten sind die Reliquien, geheiligt durch ihre Nähe zur größten Reliquie von allen: dem Sakrament. Und diese hier, die Überreste der ersten Prälaten, der Gründer der Zitadelle, sind die heiligsten von allen. Deshalb kommen die Novizen zum Gebet hierher.«
Das erklärte, wie es Oscar überhaupt gelungen war, die Sternenkarte hierherzuschmuggeln. Vor seiner Flucht war er ein Novize der Sancti gewesen. Vermutlich hatte er es während seiner Gebete hier heruntergebracht, wohl wissend, dass außer ihm kaum jemand hier herunterkam … bis sie beschlossen hatten, einmal gründlich sauberzumachen.
»Gibt es vielleicht irgendwelche Aufzeichnungen über die Renovierungsarbeiten hier unten?«, fragte Gabriel.
»Selbstverständlich. Die Berichte befinden sich im Archiv der Großen Bibliothek; aber die Bibliothek ist noch geschlossen. Ich könnte vielleicht Zugang bekommen, aber erst nach der Matin, und auch dann wird es nicht einfach sein. Das Archiv ist riesig.«
Gabriel seufzte frustriert und erinnerte sich an den Mond, den er durch das große Höhlenfenster gesehen hatte und der von Stunde zu Stunde schwächer wurde. Er griff in seine Tasche und holte sein iPhone heraus. »Und Zeit ist das Einzige, das wir nicht haben«, sagte er, schaltete das Display ein und gab es Athanasius. Als Bildschirmschoner diente ihm ein Foto der Seite in Oscars Tagebuch, auf dem die Spiegelprophezeiung stand. Athanasius begann zu lesen.
*
Die Luft in der Kathedralengrotte schmeckte süß nach der Fäulnis in der Krypta.
»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte Athanasius und hielt auf den Haupteingang zu. »Das Stundengebet wird bald wechseln, und dann sind die Tunnel nicht mehr so leer. Ich bringe Sie auf einem schnelleren Weg zurück.«
Sie folgten ihren eigenen Schritten durch das Labyrinth des Berges zurück und nahmen hier und da eine Abkürzung, die sie an Dormitorien voller schnarchender Mönche vorbeiführten und Privatkapellen, wo andere beteten. Gabriel blieb wie zuvor ein paar Schritte zurück, den Kopf gesenkt und die Kapuze darüber gezogen, damit er nicht mit Athanasius in Verbindung gebracht werden konnte, sollten sie angehalten werden. Sie hatten es fast in die Tributhöhle zurückgeschafft, als sie es beide hörten: ein tiefes Stöhnen, das durch die Dunkelheit hallte wie die gequälten Schreie eines gefangenen Tiers. Sie blieben stehen und hörten, wie es immer lauter wurde, bis es rasch wieder verhallte. Dann hörten sie Schritte. Im Tunnel
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