Sacramentum
konnte man unmöglich sagen, aus welcher Richtung sie kamen. Gabriel duckte sich in die Schatten einer Tür und tastete nach seiner Waffe, als plötzlich eine Gestalt in roter Soutane hinter ihm erschien und an ihm vorbei zu Athanasius eilte.
»Du musst mitkommen«, sagte der rot gewandete Mönch.
»Wohin?«
»Ins Hospital. Bruder Simenon hat mir befohlen, dich zu holen. Er sagt, es sei dringend.«
Ein weiteres Stöhnen stieg aus den Tiefen des Berges empor zu ihnen. »Also schön«, sagte Athanasius. »Ich war gerade auf dem Weg die Treppe hinauf, um den neuen Dienstplan in der Tributhöhle aufzuhängen, aber ich nehme an, das kann warten.«
Gabriel drückte sich an den Türrahmen und schaute zu, wie der rot gewandete Mönch Athanasius aus dem Gang eskortierte, und mit ihnen verschwand auch das schwache Licht der Öllampe. In der darauffolgenden Finsternis lauschte Gabriel auf ihre verhallenden Schritte. Schließlich war es wieder vollkommen still. Gabriel trat in den Gang hinaus und ging in die Richtung weiter, in die sie bis zu dem Zwischenfall unterwegs gewesen waren. Er holte die Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und dämpfte das Licht mit der Hand. Vor sich sah er eine Treppe, die vom Hauptgang wegführte. Gabriel hoffte nur, dass er Athanasius’ kryptischen Hinweis richtig verstanden hatte.
Nach ein paar Minuten des Aufstiegs spürte Gabriel links von sich die kühle Nachtluft, und er folgte ihr bis in die Tributhöhle. Er zog die Mönchssoutane aus, legte sie zusammengefaltet auf ein niedriges Regal und trat an den Rand der Luke. Dann schlang er das Glockenseil um einen Querbalken. Seine Arme waren noch immer schwer und nahezu kraftlos, aber wenigstens würde diesmal die Schwerkraft auf seiner Seite sein. Gabriel zog sich Handschuhe an und zog an dem Seil, um dessen Festigkeit zu prüfen.
Er war in der Hoffnung hier heraufgeklettert, eine Karte zu finden, die sie zu einem heiligen und uralten Ort führen würde, und jetzt ging er wieder mit der kleinen Hoffnung, dass Athanasius die kalte Spur irgendwo in den Archiven weiterverfolgen würde. Gabriel schaute in die mondhelle Nacht hinaus. Irgendwo da draußen war Liv. Er hatte versprochen, sie nicht im Stich zu lassen, und doch hatte er immer wieder versagt. Er hatte sie weder beschützen können, noch war er in der Lage gewesen, das eine Ding zu finden, dass die Prophezeiung aufhalten konnte, in der sie gefangen war. Mit diesem Gedanken schlang er sich das Seil ums Bein, trat auf die Plattform hinaus und ließ sich in die Nacht hinunter wie ein Mann, der langsam aufgehängt wurde.
78
Als Athanasius die Treppe erreichte, die zum Hospital führte, war das Geräusch, das er im oberen Teil des Berges gehört hatte, zu einem Chor der Verdammten angeschwollen. Mit jedem Schritt wurde es lauter, bis Athanasius all seine Kraft aufbringen musste, um weiter darauf zuzugehen. Inzwischen konnte er einzelne Worte in dem Lärm ausmachen, Worte des Klagens und des Flehens, von denen ›Vergib mir!‹ die häufigsten waren.
Am Fuß der Treppe wartete ein Wache auf Athanasius. Der Mönch trug eine Chirurgenmaske, die sich deutlich von seiner roten Soutane abhob. Eine weitere maskierte Wache stand neben der Tür zur größten Krankenstation, dem Ort, von dem das Klagen kam. Als Athanasius näher kam, gab ihm die Wache eine Maske und schaute schweigend zu, wie er sie anzog. Erst dann ging der Mann zur Tür und klopfte laut genug an, dass man ihn über den Lärm hinweg hören konnte. Innen wurde ein Riegel zurückgeschoben, dann öffnete sich langsam die Tür.
Der Anblick, der sich Athanasius bot, war die reinste Hölle. Die acht Betten, die er zuvor gesehen hatte, waren nun vollkommen zerwühlt, die Laken auf dem Boden verstreut, wo die wild um sich schlagenden Patienten sie hingeworfen hatten. Die Mönche waren bis auf das Lendentuch entkleidet und an ihre Betten gefesselt worden – genau wie der Bruder Gärtner. Und alle zeigten sie die gleichen Symptome: eitrige Beulen überall auf der Haut und klaffende Löcher, wo sie sich das Fleisch von den Knochen gerissen hatten, bevor sie gefesselt worden waren. Dazu kam dann noch das furchtbare Heulen und Wehklagen.
Die lautesten Schreie kamen von einem Bett nahe der Tür, wo es dem Patienten irgendwie gelungen war, sich von seinen Fesseln zu befreien, und nun riss er sich mit der freien Hand tiefe Wunden ins Fleisch, und sein Heulen war eine Mischung aus Qual und Erleichterung. Zwei Apothecari versuchten, ihn
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