Sacramentum
sie brauchte die Flüssigkeit, aber vor allem musste sie Gabriel wiedersehen.
Sie fand ihn im nächsten Raum. Er saß an einem Tisch gegenüber von Dr. Anata und Arkadian. Die drei kauerten über einer Landkarte, die von einem in Leder gebundenen Buch gehalten wurde, und daneben stand ein Laptop, der mit einem Handy verbunden war. Gabriel stand auf und trat zögernd und ein wenig nervös auf Liv zu, als wisse er nicht so recht, was er tun sollte. Liv löste das Problem, indem sie sich einfach gegen ihn fallen ließ und ihn an sich drückte. Er trug einen Pullover, der sich weich auf ihrer Wange anfühlte, und er roch nach Zedernholz und Zitrone – ganz so, wie Liv es in Erinnerung hatte. Schließlich trat sie wieder einen Schritt zurück und schaute ihm ins Gesicht. »Ich will nur sichergehen, dass du wirklich real bist«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Ich habe dich immer wieder im Traum gesehen, und das hat stets ein schlechtes Ende genommen.«
Gabriel lächelte. »Ich bin real«, sagte er, zog einen Stuhl für Liv heran und setzte sich wieder. »Willst du Frühstück?«, fragte er in einem Tonfall, als wären sie mit Freunden auf einem Wochenendausflug.
Teller mit Brot und Äpfeln und Töpfe mit Honig und Butter standen auf dem Tisch, und erneut knurrte Liv der Magen. Unter anderen Umständen wäre das alles richtig schön gewesen. Gabriel goss ihr einen Becher Kaffee ein und gab einen großen Löffel Honig hinein. Liv trank die süße Flüssigkeit und genoss, wie die heiße Flüssigkeit in ihrem Hals brannte.
Dann blickte sie auf die Karte auf dem Tisch. Sie zeigte die Ostgrenze der Türkei und dahinter Syrien, Jordanien und den Irak. »Und? Wo gehen wir hin?«, fragte sie.
Es folgte ein kurzes, aber verlegenes Schweigen.
»Das wissen wir nicht genau«, gab Gabriel schließlich zu. »Ich … Ich habe die Sternenkarte nicht gefunden. Irgendjemand war vor mir da. Der Mönch, der mir in den Berg geholfen hat, Athanasius, will in den Archiven nachsehen und herausfinden, was damit passiert ist.«
Obwohl Gabriels Worte tödliche Implikationen für sie hatten, hörte Liv den Schmerz und die Verzweiflung in seiner Stimme, und sie wollte ihn nur noch in die Arme nehmen und ihm sagen, dass alles wieder gut werden würde. »Dann warten wir eben«, erklärte sie und strahlte. Sie versuchte, es so klingen zu lassen, als wäre das das Beste, worauf sie hatten hoffen können.
Wieder senkte sich ein verlegenes Schweigen über den Tisch. Diesmal war es Dr. Anata, die es brach.
»Wir haben keine Zeit zum Warten«, sagte sie. »Ich bin ein paar Forschungsberichte zu antiken Karten und anderen Dokumenten durchgegangen, von denen ich geglaubt habe, sie könnten uns in die richtige Richtung führen.« Sie sprach so beherrscht, dass sie Liv damit zutiefst nervös machte. »Dabei habe ich etwas entdeckt, zwei Dinge: eines, das uns helfen könnte, und eines, das … das weniger hilfreich ist.«
In ihrem einstigen Leben als Polizeireporterin hatte Liv mal eine Kolumne über das geschrieben, was man im Polizeijargon ›das Todbringen‹ nannte. Nichts war verhasster bei den Beamten der Mordkommission. Darunter verstand man die Aufgabe, den Hinterbliebenen eines Opfers beibringen zu müssen, dass ein geliebter Mensch nie wieder zurückkehren würde. Bei ihren Recherchen hatte Liv auch die Veränderungen in Körpersprache und Tonfall der Beamten beobachtet, wenn sie diese unangenehmste aller Nachrichten übermitteln mussten. Und nun sah Liv genau diese Veränderungen bei Dr. Anata.
»Wir sind immer davon ausgegangen, dass der Countdown begann, als Sie das Sakrament befreit haben; aber nachdem ich ein wenig über antike Zeitmessmethoden gelesen habe, wurde mir klar, dass wir uns geirrt haben.« Dr. Anata nahm das in Leder gebundene Buch vom Tisch und klappte es in der Mitte auf. »In der Spiegelprophezeiung steht, dass Sie der Sternenkarte innerhalb einer vollen Mondphase heimfolgen müssen. Bis jetzt haben wir, die wir heutzutage Uhren haben, um die Zeit zu messen, das immer im Rahmen unseres modernen, fließenden Zeitverständnisses betrachtet. Doch in alter Zeit konnte man sich nur am Rhythmus der Natur orientieren. Sämtliche Bezugspunkte waren also fix. Deshalb bezieht sich ›innerhalb einer vollen Mondphase‹ also nicht auf einen Zeitraum von achtundzwanzig Tagen, der mit der Befreiung des Sakraments begonnen hat, sondern auf einen spezifischen Zeitpunkt , zu dem alles geschehen muss.«
Nun wusste Liv, warum Dr. Anatas
Weitere Kostenlose Bücher