Sacramentum
Erdbeben hin oder her, ich will keine Risiken eingehen.«
Die Braunkutten lösten die Bremse, und die Holzplattform setzte sich knarrend wieder in Bewegung.
Obwohl die Zitadelle im Laufe der Jahre vielfach modernisiert worden war, war der antike Aufzug weitgehend unberührt davon geblieben. Schon vor Zehntausenden von Jahren, als Nomaden aus aller Herren Länder hierhergekommen waren, um den heiligen Männern im Berg ihren Tribut zu zollen, waren die Waren auf diese Weise in den Berg gebracht worden. Nahrungsmittel oder andere Gaben wurden auf die Plattform gelegt und dann per Hand noch oben in das Gewölbe gezogen, das man die Tributhöhle nannte.
Und auf diesem Weg kam auch frisches Blut in den Berg.
Novizen wurden hier einzeln als Teil einer Zeremonie heraufgezogen, die man die ›Erhebung‹ nannte. Sie fand jeweils zur Winter- beziehungsweise zur Sommersonnenwende statt. Dass ein Mann durch die Mühen anderer in den Berg ›erhoben‹ wurde, war ein symbolischer Akt und auch der Grund dafür, warum ausgerechnet dieses System nie modernisiert worden war. An manchen Tagen, wenn die Wolken so tief hingen, dass der obere Teil des Berges nicht zu sehen war, sah es für den erhobenen Novizen in der Tat so aus, als würde er in den Himmel hinaufgezogen. Es war ein spektakuläres und heiliges Theater und eines, das noch immer große Zuschauermassen anzog. Das Ritual war sogar so berühmt, dass selbst Zuschauer zu den wöchentlichen Nahrungslieferungen kamen. Eifrig knipsten Touristen jeden Sack Mehl und jeden Hühnerkäfig, der auf der knarrenden Plattform in den Berg gezogen wurde.
Doch heute würden nur wenige zuschauen. Nach dem Beben waren die Touristen aus der Altstadt geflohen, und aufgrund von Bruder Axels Befehl war die Höhle nun so gut wie leer. Nur noch die Oberhäupter der Gilden waren hier sowie die beiden Braunkutten, die den Aufzug bedienten, und fünf Rotkutten, die an der Ladeluke wachten, die Hände in die weiten Ärmel gesteckt, wo sie ihre Waffen hatten.
Schließlich zeigte ein weißes Tuch am Hauptseil an, dass die Plattform gleich den Boden erreichen würde.
»Ruhig jetzt«, ermahnte der Anführer der Braunkutten seine Brüder, und langsam, Stück für Stück, ließen sie die Plattform die letzten Meter hinunter, bis eine Kerbe im Drehkranz auf gleicher Höhe mit einer Markierung an der Decke war und so anzeigte, dass der Aufzug den Boden erreicht hatte.
Hundert Meter unter ihnen setzte die Plattform auf der glatten, flachen Oberfläche des Gabensteins auf. Einer der Braunkutten verriegelte den Drehkranz und schaute zu, wie die Glocke immer langsamer schwang und sich schließlich überhaupt nicht mehr bewegte.
Nach dem lauten Klingen war die Stille in der Höhle nun nahezu vollkommen. Niemand sagte ein Wort. Niemand rührte sich. Alle Augen waren auf die Taue fixiert, die sich in die Dunkelheit hinabwanden und leicht zuckten, als unten irgendetwas aufgeladen wurde. Dann hallte ein einzelner lauter Glockenton durch die Höhle zum Zeichen, dass der Aufzug wieder raufgeholt werden konnte. Die Braunkutten traten die Bremse los und machten sich wieder an die Arbeit. »Es ist nicht allzu schwer«, bemerkte einer von ihnen. »In ein paar Minuten ist es hier.«
»Bringt es einfach rauf … langsam«, erwiderte Axel, den Blick fest auf das dunkle Rechteck im Boden der Höhle gerichtet. Er trat näher an den Rand heran und steckte automatisch die Hand in den Ärmel.
Athanasius beobachtete Axel und nutzte die Gelegenheit, um über den Mann nachzudenken, der ihn vor kurzem herausgefordert hatte und das ohne Zweifel bei der bevorstehenden Wahl auch noch mal tun würde. Er strahlte Autorität aus; daran konnte kein Zweifel bestehen. Acht Jahre als Hauptmann der Wachen hatten ihm die Fähigkeit verliehen, Befehle mit großem Selbstvertrauen und Überzeugung zu erteilen. Die Eigenschaft war sicherlich für viele im Berg attraktiv, die eine strenge Führung gewohnt waren. Doch da war auch eine Lücke in seiner Rüstung.
Historisch gesehen fanden Wahlen in der Zitadelle nur statt, um ein freigewordenes Amt zu besetzen, nämlich das des Abts. Wenn ein Prälat starb, dann übernahm der Abt automatisch seine Pflichten, bis er in dieser Position bestätigt wurde, und das war stets nur eine Formalität gewesen. Nur selten hatte es in diesem Fall einen Herausforderer gegeben und niemals einen erfolgreichen. Diesmal könnte sich das jedoch ändern. Es gab keine automatische Nachfolge. Sowohl der Prälat als
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