Saeculum
bloß?
Irgendwann, als ihre Arme fast steif geworden war, ließen sie einander los. Sie hörte, wie Bastian sich mit einem Seufzen hinsetzte.
»Ich habe übrigens etwas gefunden«, sagte er.
»Ja? Was?«
»Lisbeths Medaillon. Da sind ihre Epilepsietabletten drin.«
»Oh. Und das lag hier unten in deinem Verlies?«
Etwas klimperte. »Ja.«
Sie versuchte, die Information einzuordnen, doch es gelang ihr nicht.
»Ich stecke es ein und gebe es ihr wieder. Hör mal, Iris«, sagte Bastian. »Wenn wir hier raus sind, dann -«
»Mal sehen«, unterbrach sie ihn. Sie hatte den Vorschlag, den er ihr nach der Entdeckung der Gruft gemacht hatte, noch genau im Kopf. Jedes einzelne Wort. Aus einem Grund, den sie selbst nicht begriff, wollte sie nicht, dass er ihn wiederholte. Nicht, solange sie nicht wirklich gerettet waren.
Bastian schwieg, sie konnte seine Verwirrung spüren.
»Ich weiß, was du sagen willst«, erklärte sie. »Aber ich habe Angst, an etwas Schönes zu denken, wenn ich nicht sicher weiß, dass alles gut geht.«
»In Ordnung.«
Weitere Minuten vergingen. Iris versuchte, leise zu atmen, versuchte, nach oben zu horchen, doch alles war still. Keine Schritte. Wo blieben Paul und die anderen?
Ein Bild formte sich in ihrer Vorstellung und ließ sie schaudern. Simon und sein Begleiter, die sich aus einem Hinterhalt auf Paul, Carina und Lars warfen. Sie niederschlugen. Oder Schlimmeres. Mein Gott, ich hätte sie warnen müssen. Irgendwie.
Was, wenn sie nicht kamen? Wenn niemand hier auftauchte außer Simon? Aber vielleicht würde er sich nicht mal mehr die Mühe machen, sondern saß oben vor dem Grab, wie die Katze vor dem Mauseloch, und wartete, dass Iris herauskam.
Mit einem Mal fiel ihr das Atmen schwer.
»Was hast du?«
»Nichts. Alles bestens.« Sie würde Bastian nicht beunruhigen, auf keinen Fall. Aber sie würde ihn nicht allein aus der Grube kriegen. Ebenso wenig konnte sie Hilfe holen gehen, ohne zu riskieren, dass Simon sie abfing.
Oh bitte. Paul, Carina, seid nicht verletzt. Beeilt euch.
Wie hatte Simon das nur hinbekommen? Dass er sie am Ende allein zu fassen kriegte, und mehr als das. Mit Bastian in seinem Kerkerloch hatte er ein Druckmittel. Er würde ihr vom Gesicht ablesen können, dass Bastian ihr nicht gleichgültig war, und sie würde sich wie ein Hündchen von ihm an die Leine legen lassen, wenn er es verlangte. Sie wusste nicht, wie es ihm gelungen war, aber er hatte sie ausgetrickst.
Andererseits … nein. Es fühlte sich falsch an. Zu raffiniert, von langer Hand geplant. Das passte nicht zu Simon.
»Bist du noch da?« Bastian klang beunruhigt.
»Ja, natürlich! Übrigens - ich habe dir deine Brille mitgebracht.«
Er lachte. »Danke! Dann ist die Finsternis wenigstens nicht mehr so unscharf.«
Iris reichte ihm die Brille durchs Gitter, fühlte, wie er danach tastete.
»Wenn es nicht völlig wahnsinnig wäre«, sagte sie, »würde ich jetzt die Harfe auspacken und spielen.«
»Das tust du nicht!«
»Nein, natürlich nicht. Aber Harfe spielen nimmt mir die Angst. Es ist ein bisschen wie fliegen, es hebt mich über den ganzen Mist -«
Sie verstummte. Da war ein Geräusch gewesen, nicht besonders laut, aber deutlich hörbar. Unterdrückte Stimmen, ein kurzes Auflachen.
Sie kommen.
Aber wer? Paul? Oder doch Simon? Iris dachte nicht länger nach, sie rutschte rücklings von der Grube weg, bis sie an eine Felswand stieß, eine Nische fand und sich hineindrückte. Sie hörte Bastians gezischte Warnung, doch sie brachte keine Antwort mehr heraus.
Jetzt würde es passieren. Auf die eine oder andere Art. Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel.
V ergeblich versuchte Bastian, Iris in der Dunkelheit zu sehen oder wenigstens zu spüren. Hoffentlich hatte sie sich versteckt und behielt die Nerven, wenn es tatsächlich Simon war, dessen Schritte sich nun über die Wendeltreppe näherten. In dem Fall würde Bastian sein Bestes tun, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Schritte wurden lauter, die Neuankömmlinge mussten nun fast unten sein. Wie der suchende Strahl eines Leuchtturms schwenkte ein silberner Lichtkegel durch den Raum. Dann ein zweiter.
»Bastian?«
Er atmete aus, hätte fast geschluchzt vor Erleichterung. »Paul! Mein Gott, bin ich froh.«
Über dem Gitter tauchte erst Pauls lächelndes Gesicht auf, dann der ganze Paul. In seiner linken Hand hielt er die Lampe, in der rechten eins der alten Schwerter aus der Gruft. »Jetzt hast du es gleich überstanden. Mach
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